Buchtipp China: Verständnisfördernde Lektüre

Henry Kissinger hat ein beeindruckendes Buch über China vorgelegt. In seinem Verzicht auf den moralisch erhobenen Zeigefinger dürfte es Anstoß erregen. Aber gerade dieser Verzicht auf Ereiferung macht die Qualität des Werkes aus, das in einer Tour d’Horizon durch die chinesische Geschichte von deren Anfängen bis in die Gegenwart führt.

Die Augen fest auf den Künstler Ai Weiwei gerichtet und mit ihm auf die aus westlicher Sicht problematischen Menschenrechte steht das riesige China mit seinen beinahe 1,4 Milliarden Menschen in einem Blickwinkel, der dem Land nicht gerecht wird. Und auch der andere Blickwinkel, der dieses uralte Kulturland aus gierigen Augen als nichts weiter ansieht als einen einzigen riesigen zu erobernden Markt eröffnet und ermöglicht keinen sinnvollen Zugang zu Land und Leuten des Reichs der Mitte im Aufbruch in eine führende Rolle auf Weltbühne.

Auch für das Aufbruch bedingt mit vielfältigen inneren Spannungsverhältnissen kämpfende China gilt, was generell gelten sollte: Wer verstehen will, muss zu verstehen versuchen. Und wer sich auf diesen meist mühsamen Prozess des Verstehenwollens einlässt, muss bereit sein, vorurteilslos hinzuschauen. Was nichts anderes bedeutet als sich zu bemühen, durch das Zeitgeistige des Tagesgeschehens hindurchzuschauen, hinter den publikumswirksam hochgeschriebenen, Interessen geleiteten Aufgeregtheiten nach weniger volatil-beliebigen Meinungskonstruktionen Ausschau zu halten.

Sozusagen als Einstimmung auf Kissingers Buch gerät da Urs Schoettli, seit 1996 Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ in Hongkong, Tokio und Peking in den Blick. Auf etwas sehr Wesentliches kommend stellte er unlängst fest: „ Die Begegnung mit Lehrkräften und Studenten an chinesischen Universitäten ist jedes Mal eine Bereicherung. Hier finden sich noch Menschen, die sich nicht in Selbstmitleid und Zivilisationspessimismus suhlen, sondern an eine lichte Zukunft der Menschheit glauben.“ Es ist diese Geisteshaltung, die Schoettli, er selbst hat ein lesenswertes Buch über China vorgelegt, zu der Mahnung führt: „China ist heute dran, die Weltspitze nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in den Wissenschaften zu erklimmen. Es ist dies erkennbar an der Qualität der Universitäten und Forschungsinstitutionen des Staates und der Industrie. Wie in Indien stehen in China Millionen von jungen Menschen bereit, die Fahne des Fortschritts zu ergreifen und damit gesellschaftliches Ansehen zu erringen.

Ob dem alten Kontinent das gelingt? Ob er sich dazu durchringen kann? Die Zweifel an dieser Möglichkeit lassen sich nicht unterdrücken. Genährt und verstärkt werden sie durch den europäischen Übervater, die EU, diesen Koloss auf tönernen Füßen, der in unermüdlichem bürokratischen Erfindungsreichtum den Selbstbestimmungsraum der Bürger mehr und mehr einengt. Und anstatt diesem selbstzerstörerischen Prozesses beherzt entgegen zu treten, übt sich ein völlig orientierungsloses Deutschland in diesbezüglich beflissenem Umsetzungseifer, gefällt sich larmoyanter Emotionalität als Weltenretter, wo in nüchterner, zupackender Rationalität die Besinnung auf die eigenen Interessen und Möglichkeiten geboten wäre. So sorgt emphatische Weltverbesserung überall für enorme Verunsicherung und zutiefst befangene, dem Ganzen keineswegs dienliche Verhaltensweisen. Kein Wunder, dass der welterfahrene Günter Ederer, selbst als ZDF-Korrespondent sechs Jahre im asiatischen Raum tätig, seinem kürzlich erschienenen empfehlenswerten Buch den bezeichnenden Titel gab „Träum weiter, Deutschland! – Politisch korrekt gegen die Wand.“

Kissinger, der Professor für Politikwissenschaft in Harvard, der langjährige US- Regierungsberater in Fragen der Strategie und Abrüstung, der amerikanische Außenminister und nicht zuletzt der Friedensnobelpreisträger von 1973 hat diesen Kosmopolitismus erkannt. Denn nichts anderes als ein wohl überlegter, abgewogener Aufruf, sich der strategischen Herausforderung des chinesischen Aufbruchs bewusst zu werden, sind die gewichtigen 600 Seiten seines bemerkenswerten Buches. Und, unterschwellig, den ständig in Richtung China ausgestreckten mahnenden und ermahnenden Zeigefinger einmal in Ruhestellung zu belassen.

Kritiker dürften sich denn auch daran reiben, dass Kissinger das Geschehen auf dem Tiananmen, dem Platz des himmlischen Friedens, recht knapp, ohne große moralische Geste abhandelt. Was keineswegs damit gleichgesetzt werden darf, dass ihn das Geschehen nicht berührt. Nur, von Druck auf China hält Kissinger wenig. Der alte Stratege weiß im Gegensatz zu vielen jungen Hitzköpfen und Weltverbesserern, Druck führt zur Verhärtung von Positionen, nicht zur Aufgeschlossenheit für andere Sichtweisen und Standpunkte. Gegenseitiges Verständnis ist so nicht zu erreichen. Doch gerade darauf kommt es Kissinger an, dafür plädiert er.

Gibt es ein besseres Plädoyer für die Lektüre dieses beeindruckenden Buches als diese abschließenden Sätze des Beitrages „Fukushima – Eine Erzählung in nationalen Geschichten“ von Florian Coulmas, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio aus der Neuen Zürcher Zeitung (1): „ Die nationalen Massenmedien filtern aus dem globalen Informationsangebot eine Geschichte heraus, die sie in den jeweiligen Diskurszusammenhang einbringen, womit sie die Erwartungen ihrer Konsumenten befriedigen und verstärken. Das wird vorerst so bleiben, denn die Bereitschaft, zu glauben, die Welt sei ein Dorf, ist im Zeitalter des Internets groß, und nur wenige Medienkonsumenten machen sich die Mühe, selbst nachzusehen, wie dieses Dorf außerhalb des Ausschnitts aussieht, den ihre heimischen Nachrichtenmittel ihnen präsentieren.“ (1) NZZ vom 2. August 2011, Seite 15

Rezension Hartmut Volk, Bad Harzburg

- Henry Kissinger: CHINA – Zwischen Tradition und

Herausforderung, C.Bertelsmann Verlag, München 2011,

606 Seiten, € 26,--

Ergänzend lesenswert:

- Urs Schoettli: China – Die neue Weltmacht, Schöningh Verlag, Paderborn, 2. Auflage 2008, 240 Seiten, € 22,--

- Regina Meier / Ulrike Reisach (Hrsg.) Aufbruch im Land des Drachen – Arbeiten und Leben in China zwischen Konfuzianismus, Sozialismus und Globalisierung, Kasimir Katz Verlag, Gernsbach 2008, 192 Seiten, € 24,80

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