Neue Vertriebsstrukturen sind gefordert
Distributionspolitik in der Bauwirtschaft
Die Distributionspolitik in der Bauwirtschaft hat grundsätzlich vergleichbare Funktionen zu erfüllen wie die Distributionspolitik in anderen Industrie- und Dienstleistungsbereichen, allerdings prägen die branchenspezifischen Aspekte des Baugewerbes die Ausgestaltung der Vertriebswegepolitik relativ stark.
Dies ist im Wesentlichen auf die folgenden Faktoren zurückzuführen:
n Die Baudienstleistung hat einen immateriellen Charakter (Koordination, Planung, Beratung, Steuerung)
n Die klassische Bauproduktion findet überwiegend am Ort des Konsums statt, eine „Vorfertigungskultur“ an einem spezifischen Ort (Produktionsanlagen) existiert in der Bauwirtschaft in deutlich geringerem Umfang als in stationären Industriezweigen
n Der typische Bauproduktionsprozess erlaubt somit keine Lagerhaltung
n Die unterschiedlichen Bauprodukte sind häufig technisch sehr anspruchsvoll und sehr komplex
n Das Baugeschäft ist ein Geschäftsmodell, das üblicherweise eine starke lokale bzw. regionale Verankerung erfordert.
Regional – Überregional
Diese Rahmenbedingungen können zu unterschiedlichen Formen der Vertriebswegepolitik führen: Klein- und mittelständisch geprägte Bauunternehmungen agieren in ihrem direkten oder benachbarten Umfeld, d.h. sie betätigen sich tendenziell in einem relativ überschaubaren geographischen Radius. Größere mittelständische und große Bauunternehmen agieren überregional, müssen dabei jedoch auch in lokalen Strukturen verankert sein. Diese Anforderungen schlagen sich in der Regel in folgender Organisationsstruktur nieder (in Deutschland): Einerseits werden unterschiedliche Gebiete je nach Größe in unterschiedlichen geographischen Strukturen bzw. Einheiten zusammengefasst, andererseits werden produkts- oder segmentspezifische Faktoren bei der Organisationsgestaltung berücksichtigt (siehe Abbildung 1).
Niederlassungen
Sämtliche der großen und bedeutsamen deutschen Bauunternehmen haben in den letzen Jahrzehnten ein bundesweites Niederlassungsnetz aufgebaut, das so engmaschig ist, dass jedes Gebiet in Deutschland erfasst werden kann, und dass innerhalb dieser Teilräume jeder Kunde relativ zeitnah erreicht werden kann. Andererseits müssen diese Niederlassungen sowohl räumlich als auch von ihren Ressourcen in der Form dimensioniert sein, dass sie ausreichende Gewinnbeiträge erwirtschaften können. Im Rahmen der großen Krise der Bauwirtschaft zwischen 1995 und 2005 haben viele Bauunternehmen ihre Distributionsstrukturen vor dem Hintergrund einer rückläufigen Nachfrage und/oder sinkender Gewinnmargen gestrafft, wobei viele Niederlassungen verkleinert, zusammengelegt oder geschlossen wurden.
Spezialistentum
Die hohen Anforderungen an die technische Expertise in speziellen Geschäftsfeldern (z.B. Tunnelbau oder Spezialtiefbau) erfordern, dass diese Ressourcen von den Bauunternehmen in ausreichender Quantität vorgehalten werden müssen; vielfach sind diese Spezialisten in einer Organisationseinheit zusammengefasst, und werden je nach Kundenanforderung an den Ort des Bedarfs gebracht. Ein Beispiel: Ein Bauprojekt, dass das Ziel hätte, die Münchner Untergrundbahn massiv auszubauen, würde eine relativ hohe Anzahl an Spezialisten erfordern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in nicht ausreichender Zahl in der Münchner Niederlassung verfügbar wären, insofern müssten die entsprechenden Fachkompetenzen entweder regional- oder bundesweit aus der Unternehmensstruktur beschafft werden. Da ein Spezialist (oder eine Gruppe von Spezialisten) aufgrund der relativ geringen geographischen Distanzen und der gut ausgebauten Infrastruktur grundsätzlich innerhalb weniger Stunden an jedem Ort in Deutschland verfügbar sein kann, ist eine „Vor-Ort-Ansiedlung“ spezifischer Kompetenzen nur in Ausnahmefällen erforderlich.
Allgemein ausgedrückt: Die Bündelung von Ressourcen und Kompetenzen in Verbindung mit der räumlich flexiblen Verfügbarkeit sind wichtige distributionspolitischer Themenfelder der Bauindustrie. Diese Rahmenbedingungen führen in vielen Fällen dazu, dass häufig unterschiedliche unternehmensinterne Kooperationsformen gebildet werden. So können aus den genannten Gründen zwei Niederlassungen miteinander kooperieren (z.B. die regional zuständige Niederlassung mit der zuständigen Fachniederlassung) oder auch zwei Niederlassungen mit gleichem Kompetenzprofil aus Kapazitätsgründen miteinander kooperieren. In Abb. 2 wird eine mögliche Zusammenführung unternehmensinterner Ressourcen zur Realisierung eines Projekts dargestellt. In diesem Fall werden zwei Dimensionen zusammengeführt, die Regionalkomponente (Niederlassung München) und die Fachkomponente (Niederlassung Tiefbau). In anderen Situationen können sich beispielsweise zwei Niederlassungen mit vergleichbarem Kompetenzprofil aus Kapazitätserwägungen zusammenschließen. Unabhängig davon, welche Formen der internen Zusammenarbeit gewählt werden, wichtig ist dass diese den Projekt- bzw. den Kundenanforderungen entsprechen, ohne für das Unternehmen einen unzumutbaren Aufwand zu generieren.
Distributionsorgane der Anbieter
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Distributionspolitik mit bauwirtschaftlichem Hintergrund sind die Organe der Distribution. Die Bauunternehmen verfügen üblicherweise über eigene Vertriebsabteilungen oder Vertriebsmannschaften, auch wenn sich diese anders nennen und teilweise anders agieren als in anderen Branchen. Grundsätzlich existieren zwei Verfahrenswege: Bei staatlichen Ausschreibungen werden so genannte Angebote erstellt, die auf der Basis der Ausschreibungsunterlagen kalkuliert werden (reaktiver Ansatz). Vereinfacht ausgedrückt: Die Kalkulationsabteilung erstellt, teilweise unter Einbindung weiterer Expertise, ein Angebot, dass je nach Submissionsergebnis (Ergebnis des Bieterverfahrens, in der Regel der Zuschlag) vom Kunden angenommen wird. Bei Aufträgen, die nicht dem engmaschigen Vergaberegelwerk des Staates unterliegen, haben die Unternehmen mehr Gestaltungsräume bei der Auftragsakquisition (aktiver Ansatz).
Beispiel: Ein Bauunternehmen, dass bereits mehrfach Produktionsstandorte für die Automobilindustrie gebaut hat, erfährt, dass ein ehemaliger Kunde beabsichtigt, den
asiatischen Markt mit Hilfe eines lokalen Produktionsstandorts zu erschließen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt könnte die Bauunternehmung den ehemaligen Kunden erneut kontaktieren und seine Hilfe bei der Realisierung des Projekts anbieten. Die typischen Anbieterorgane der Distribution bei Bauunternehmen sind:
n Kalkulationsabteilung
n Vertriebsmitarbeiter
n Key Account Management.
Die Arbeitsweise der Kalkulationsabteilung ist allgemein bekannt; hier sitzen meist erfahrene Kalkulatoren und errechnen die Angebotspreise, mit denen das anbietende Bauunternehmen in den Markt geht. Das Key Account Management oder Schlüssel- bzw. Großkundenmanagement, in vielen Branchen bereits Standard, findet auch zunehmend in der Bauwirtschaft Anwendung.
Ein Großkunde wie beispielsweise die RWE AG, die bundesweit über einen großen Immobilienbestand verfügt, möchte einen zentralen Ansprechpartner bei einem Bauunternehmen vorfinden, unabhängig davon, ob der Bedarf nach Baudienstleistungen z.B. in Berlin, in Düsseldorf oder in Stuttgart entsteht. Der Key Account Manager stellt das Bindeglied zwischen dem Kunden und den teilweise komplexen Unternehmensstrukturen dar, damit die erforderliche Leistung ohne größere Effizienzverluste entsprechend organisiert werden kann. Im Rahmen der Vertriebspolitik in der Bauindustrie gewinnt das Thema „Wiederholkunden“ zunehmend an Bedeutung; eng verknüpft ist damit der Bereich des Customer Relationship Managements (CRM). Prinzipiell ist Marketing in der Bauindustrie, besonders jedoch im Projektgeschäft, ein „Management von Diskontinuitäten“, da das Unternehmen in der Vorphase und in der Bauphase einen relativ engen Kundenkontakt unterhält, nach erfolgreicher Realisierung endet dieser Kontakt in den meisten Fällen. Dadurch geht ein Großteil des Wissens über den Kunden, die internen Strukturen, seine Abläufe etc. verloren, nach einigen Jahren existieren auf der Seite des Kunden häufig andere Ansprechpartner, und die gemeinsame Erfahrung der Vergangenheit verblasst. Der ausreichend enge Kontakt auch nach Abschluss des Projekts ist eine wesentliche Voraussetzung für die Akquisition neuer Bauvorhaben, insofern kann eine strukturierte Kundenbearbeitung (auch nach Projektabschluss) eine strategische Wettbewerbsvorteilssituation schaffen.
Absatzmittler und Absatzhelfer
Der Beschaffungs- und Absatzprozess in der Bauwirtschaft ist in vielen Fällen sehr komplex und personalintensiv. Generell existieren spielen Absatzmittler bzw. Absatzhelfer im inländischen Baugeschäft keine signifikante Rolle, bisweilen dienen sich den Bauunternehmen manche Personen an, die angeben, über besondere Verbindungen zu verfügen. In der Bauwirtschaft existiert zumindest kein institutionalisiertes Absatzmittlersystem, wie es beispielsweise in der Versicherungsbranche oder in der Modebranche üblich ist. Im Auslandsgeschäft tritt diese Absatzkonstruktion tendenziell häufiger auf, v.a. in komplexen und unübersichtlichen Baumärkten in Schwellen- und Entwicklungsländern. Diese Personengruppen variieren in ihrer Nützlichkeit für die Akquisition von Projekten auf einer Skala von wenig nützlich bis äußerst hilfreich, für die Anbieter von Baudienstleistungen ist es häufig schwierig, die Absatzmittler im Vorfeld zu bewerten.
Je mehr sich die Bauunternehmen in die Richtung eines Dienstleistungsunternehmens entwickeln, desto stärker werden sie ihr ursprünglich reaktives Distributionssystem zu innovativen Vertriebsstrukturen ausbauen müssen, um sowohl den Kundenanforderungen als auch den Herausforderungen des Wettbewerbs begegnen zu können. Insofern ist davon auszugehen, dass sie Distribution in der Bauindustrie sich weiter professionalisieren wird.
Die Distribution muss sich in der Bauwirtschaft weiter professionalisieren!