„Für uns geht ein digitaler Zwilling weit über BIM hinaus.“

Städteplanung mithilfe eines digitalen Zwillings

Eugen Schmitz, Chefredakteur THIS, sprach auf der Intergeo 2019 mit Robert Mankowski, Vice President Digital Cities bei Bentley Systems, über den Nutzen von ‘Digital Twins’ bei der Städteplanung und -entwicklung sowie für Smart Cities.

THIS: Ihre Präsentation auf dem Intergeo-Stand von Bentley Systems über den Einsatz von ‚Digital Twins‘ bei der Planung und Entwicklung von Städten am Beispiel eines 3D-Modells von Helsinki war sehr eindrucksvoll.

Robert Mankowski: Der digitale Zwilling ist eine fantastische Möglichkeit, alle Informationen über Städte zu erhalten, aufzuzeigen, wie sich Städte entwickeln können, und wie die Veränderungen in der Entwicklung einer Stadt aussehen würden.


THIS: Ist das der Hauptunterschied zwischen BIM und einem digitalen Zwilling?

Robert Mankowski: Ja. Für uns geht ein digitaler Zwilling weit über BIM hinaus. BIM sind typischerweise Modelle, 3D-Modelle und die damit verbundenen Eigenschaften der Objekte, ergänzt um Zeitabläufe und Kosten.

Digitale Zwillinge versuchen jedoch wirklich, den gesamten Lebenszyklus des Assets zu reflektieren. Im Falle von Bentley Systems konzentrieren wir uns auf die Infrastruktur. Digitale Zwillinge werden während des gesamten Lebenszyklus der Infrastruktur eingesetzt, von der Planung bis zum Design; oft spielen dabei Geo-Informationssysteme (GIS) und Building Information Modeling (BIM) eine Rolle. Auch im Bauwesen wird BIM häufig eingesetzt, inzwischen auch im Betrieb, wo man traditionellere Asset-Management- und Betriebstechnologien hat.

Beim digitalen Zwilling geht die Pflege und Entwicklung des Models nach dem Bauende weiter. Es ist eine Kombination aus 3D-Visualisierung, technischen Modellen zum Verständnis und zur Modellierung der Leistung der Anlage, ergänzt um operative Technologien wie Sensordaten, Zeitreihendaten, die von physischen Sensoren auf der physischen Infrastruktur stammen, und der Schaffung eines Systems mit geschlossenem Regelkreis.

So lässt sich der digitale Zwilling verwenden, um bessere Entscheidungen über die Infrastrukturanlagen zu treffen. Dies können Kapitalplanungsentscheidungen sein, vielleicht auch Wartungsentscheidungen oder operative Entscheidungen. Auf alle Fälle wird der digitale Zwilling genutzt, um verschiedene Szenarien zu betrachten: Wenn wir eine Änderung vornehmen, wie wirkt sich das auf das System aus? Was sind die Kosten? Was sind die Effizienzsteigerungen?


THIS: Das muss sich aber nicht nur auf ein Infrastrukturprojekt beschränken?

Robert Mankowski: Nein, man kann ganze Städte in ein Modell aufnehmen, wie wir am Beispiel von Helsinki gezeigt haben. Hier wollte die Stadt eine technisch und konzeptionell einheitliche Stadtplanung mit dem Ziel, die Effizienz des Stadtplanungsprozesses zu steigern und die Beteiligung der Bürger am Stadtplanungsprozess zu erhöhen.


THIS: Dazu muss man aber den Bürgern nicht nur die Realität als Modell zeigen, sondern verschiedene mögliche Entwicklungen.

Robert Mankowski: Genau! Aber das passiert im Kontext der bestehenden Realität. Es beginnt typischerweise mit dem, was wir digitalen Kontext nennen. Ein 3D-Modell der Stadt wird erstellt. Das könnte durch automatisierte Photogrammetrie-Techniken geschehen. Bentley Systems bietet eine Kontexterfassungssoftware, die Punktwolken und Bilder aufnimmt und eine 3D-Realität rekonstruieren kann. Und dann werden in den digitalen 3D-Kontext diese anderen Informationen aus den unterschiedlichsten Informationssystemen integriert.

Die Idee ist also, dass eine föderierte, offene, vernetzte Datenumgebung geschaffen wird. Man versucht nicht, ein einzelnes Repository oder eine einzelne Datenquelle zu erstellen; man versucht, eine einzige Ansicht aller verschiedenen Daten zu erstellen, die verfügbar ist, da Städte viele Daten erzeugen.

Es gibt eine Menge Daten, aber sie existieren typischerweise in Silos. Die Wasserbehörde hat also Daten, das Elektrizitätsunternehmen hat Daten, die Transportabteilungen von Straße und Schiene haben Daten – all das existiert schon heute.


THIS: Aber parallel, in unterschiedlichen Formaten und Systemen ...

Robert Mankowski: Ja. Doch so nutzen sie nur dem jeweiligen Besitzer der Daten.
Nun besteht die Idee eines digitalen Zwillings darin, diese Daten unter Verwendung des digitalen 3D-Kontextes als Plattform oder, wenn Sie so wollen, auf einer Leinwand zu integrieren, so dass sie dazu beitragen können, neue Erkenntnisse über Planung, Design, Bau und Betrieb einer Stadt zu gewinnen.


THIS: Wenn man also ein neues Quartier entwickeln will, kann man gleich die erhöhten Anforderungen etwa an Stromversorgung oder Abwasser in die bereits bestehenden Anlagen integrieren?

Robert Mankowski: Wenn man einen neuen Stadtteil plant, dann sollte man vielleicht die Daten für die Versorgungsunternehmen, Wasser und Abwasser und Regenwassersammlung integrieren. Man würde die Daten für die bestehenden Gebäude und Straßen und Verkehrssysteme, wie Bahn und Bahnhof, integrieren und damit helfen, die Auswirkungen des Stadtplans zu verstehen. Die Frage ist, was vor allem die Bürger davon halten, wenn neue Wohngebiete gebaut werden, ein neues Geschäftsviertel und ein Park? Sind sie der Meinung, dass dies eine gute Idee ist oder sind sie davon überzeugt, dass dies eine schlechte Idee ist?

Die Diskussion mit den Bürgern ist ein wichtiger Bestandteil bei der Anwendung von digitalen Zwillingen in Städten. Aber es hilft auch, die Auswirkungen auf die Versorgungsunternehmen, die Verkehrssysteme, die Gebäude zu verstehen und bietet einen 3D-Visualisierungskontext, der einfach zu verstehen und nachvollziehbar ist.

Einer der großen Vorteile ist, dass die Kommunikation mit unterschiedlichsten Interessengruppen, mit anderen Stadtverwaltungen, mit Fachabteilungen, mit privaten Einrichtungen und so weiter verbessert werden kann und auch die direkte Kommunikation mit den Bürgern einer Stadt.


THIS: Gibt es feste Schnittstellen etwa zu Bauunternehmen, die diese Planungen dann umsetzen müssen?

Robert Mankowski: Städte verändern sich ständig. In jeder Stadt finden Bauprojekte statt. Dies hat einen großen Einfluss auf die Bürger der Stadt. Wenn es einen digitalen Zwilling einer Stadt gibt, können Bauunternehmen die Daten verwenden, um den gesamten Bauprozess zu modellieren.

Aus städtischer Sicht sind vielleicht nicht unbedingt die Details des Bauprozesses interessant, sondern die Schnittstelle zwischen Baustelle und Stadt: Wie werden die Lastwagen in die und aus der Baustelle fahren? Sind Straßensperren erforderlich? Was bedeutet das für den Verkehr? Gibt es eine besondere Lärmentwicklung? Es gibt verschiedene Arten, wie die Baustelle den Rest der Stadt beeinflusst. Die Verwendung eines digitalen Zwillings kann einer Stadt helfen, das zu verstehen.

Die Verwendung eines digitalen Zwillings, um Entscheidungsprozesse mit ausreichenden Informationen zu hinterlegen, erfordert ein Umdenken. Der Schlüssel zur effektiven Verwendung eines digitalen Zwillings liegt in der Verwendung von Daten. Nur so lassen sich Auswirkungen von zunehmender Bevölkerungsdichte auf Infrastruktur wie Wasserversorgung und Abwasser-Ableitung zuverlässig ermitteln.

In den nordischen Ländern haben wir einige Beispiele aus Schweden und Finnland, Göteborg und Helsinki, die Technologie für ihren Stadtplanungsprozess nutzen und die Stadtpläne mit allen Beteiligten, einschließlich der Bürger, sehr gut kommunizieren. Dort kann man in den Bezirk gehen, und sich auf seinem Smartphone anschauen, wie dieser Bezirk basierend auf den vorliegenden Plänen in fünf Jahren oder zehn Jahren aussehen wird. Diese Art von Engagement wird meiner Meinung nach von den Bürgern in unserer digitalen Zeit erwartet.


THIS: Da sind wir in Deutschland noch ein Stück weit hinterher ...

Robert Mankowski: Es ist diese Kultur, diese Denkweise, die sich entwickeln muss, um Daten zu nutzen, um den Entscheidungsprozess zu unterstützen. Ein digitaler Zwilling arbeitet mit Rückkopplung. Man nutzt den digitalen Zwilling, um Entscheidungen zu treffen, führt diese Entscheidungen in der physischen Welt durch, indem man die Änderungen an der Infrastruktur vornimmt, die dann Daten sozusagen an den digitalen Zwilling zurückgibt, so dass man die Auswirkungen dieser Entscheidungen mit den neuen Daten überwachen kann.


THIS: So unterliegt der digitale Zwilling einer ständigen Veränderung.

Robert Mankowski: Der digitale Zwilling ist das lebendige, sich ständig verändernde Abbild einer lebendigen, sich ständig verändernden Stadt.

In Helsinki gibt es das Projekt namens "Kalasatama", das als Smart Innovation District genutzt wird. Dort experimentiert man mit intelligenten Stadt-Technologien und nutzt diese, um schnell zu lernen, was funktioniert und was nicht funktioniert, was die Bürger und Unternehmen in der Region schätzen und was ihr Leben besser macht.

Der digitale Zwilling hat kein Ziel, keinen Selbstzweck, sondern er ist ein Instrument, das zur Verbesserung des Lebens der Menschen in den Städten eingesetzt werden soll. Es geht also darum, sicherere und geschützte Städte zu entwerfen, effizientere Dienstleistungen und neue bzw. verbesserte Dienstleistungsniveaus anzubieten, widerstandsfähige Städte zu bauen, Städte, die Lärm, Umweltverschmutzung und alternden Infrastrukturen standhalten können, obwohl sie ihnen ständig insbesondere in der westlichen Welt, in der wir über eine sehr alte Infrastruktur verfügen, ausgesetzt sind.


THIS: Gilt das auch für akute Entwicklungen? Hier in Deutschland haben wir beispielsweise vermehrt mit Starkregen-Ereignissen zu kämpfen.

Robert Mankowski: Starkregen, Überschwemmungen, Erdbeben, Hitze – mit einem digitalen Zwilling lässt sich planen, wie man mit jenen Problemen umgeht, man kann das Risiko abschätzen, das mit jenen Problemen für Ihre Städte verbunden ist.

In Europa, so schätzen die Vereinten Nationen, leben 74 Prozent der europäischen Bevölkerung in Städten; diese Zahl wird noch zunehmen. Es gibt zwar einige Städte in Europa, die in den letzten 20 Jahren kleiner geworden sind, aber die meisten wurden größer, und werden es auch in Zukunft weiterwachsen.


THIS: Diese Entwicklung sehen wir auch in starkem Maße in Deutschland.

Robert Mankowski: Die meisten Menschen leben in Städten, der größte Teil der Wirtschaftstätigkeit entfällt auf Städte, und so wirkt sich der Einsatz von Technologien, die Städte sicherer, widerstandsfähiger und effizienter machen, auf uns alle oder die meisten von uns aus. Umso wichtiger ist es, eine umfassende Planung zu entwickeln, mit denen man verschiedenste Anforderungen und Situationen und ihre Auswirkungen durchspielen kann. Dafür ist der digitale Zwilling die Lösung.
 
 

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