„Viele Risiken liegen außerhalb des Einflusses von Bauunternehmen“
Projektsicherheit erhöhenGespräch mit Claudia Bingel, Vice President Construction, und Torsten Überall, Sales Director Construction Specialty bei Marsh Deutschland, über den Deutschen Baupreis, digitale Herausforderungen und Risiko-Minimierung bei Bauprojekten.
THIS: Marsh unterstützt den Deutschen Baupreis ja nicht das erste Mal – danke dafür. Was gab dieses Mal den Ausschlag, den Deutschen Baupreis zu unterstützten?
Claudia Bingel ist Vice President Construction bei Marsh Deutschland.
@ Marsh GmbH
Claudia Bingel: Die Baubranche muss gestiegenen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht werden, muss sich ökologisch neu ausrichten, und muss diese Transformation in einem rückläufigen Markt bei steigenden Kosten vollziehen. Dazu braucht es Innovationskraft, den Willen zu Zusammenarbeit und auch eine gehörige Portion Unternehmertum. Alle diese Eigenschaften zeichnet der Deutsche Baupreis aus.
Als technischer Versicherungsmakler und Risikoberater sind wir Partner dieser Unternehmen und ist es uns eine Freude, ein solches Engagement zu unterstützen.
THIS: Nach Jahren des Booms erlebt die Baubranche gegenwärtig schwierige Zeiten.
Was erwarten Sie für 2024?
Torsten Überall ist Sales Director Construction Specialty bei Marsh Deutschland.
@ Marsh GmbH
Torsten Überall: Die Bauwirtschaft sieht sich konfrontiert mit einer Zinswende, massiv gestiegenen Material- und Energiekosten, einem Mangel an Fachkräften, den Erfordernissen der Energiewende, und einer teilweise überbordenden Regulierung. Wenig überraschend rechnet der Zentralverband Deutsches Baugewerbe in seiner Prognose für dieses Jahr mit einem Rückgang der Baukonjunktur um real weitere 3 Prozent, nach einem Rückgang von über 5 Prozent in 2023. Auch wenn im zweiten Halbjahr 2023 eine leichte Beruhigung eintrat, halten sich die Einkaufspreise für die wesentlichen Baumaterialien auf Rekordniveau.
THIS: Welche Auswirkungen hat das?
Torsten Überall: Nach dem sprunghaften Anstieg der Bauzinsen 2022 sank der Auftragseingang für Wohnungsbauten um 40 Prozentpunkte und hat sich davon bisher kaum erholt. Besonders betroffen ist der Wohnungsbau.
Beim Wirtschafts- und öffentlichen Bau sind die Zahlen etwas stabiler und dürften 2024 zu einem leichten Wachstum zurückkehren. Dennoch, die Kapazitätsauslastung im Baugewerbe lag im 4. Quartal 2023 bei nur 69,5 %.
Claudia Bingel: Der ifo-Konjunkturspiegel 12/2023 zeigt in allen Bereichen des Baugewerbes eine deutliche ungünstige Entwicklung für die ersten sechs Monate 2024 bei sinkendem Auftragsbestand.
THIS: Welche Themen werden neben der Preisdiskussion die Bauwirtschaft mittel- bis langfristig prägen?
Torsten Überall: An erster Stelle sehen wir die großen Infrastrukturprojekte im Energiebereich – die Umstellung von fossiler auf erneuerbare Energiegewinnung. Hinzu kommt die Verkehrsinfrastruktur – ob nun Bahn, Straße oder Flugverkehr, sowie der Ausbau von Glasfaser und 5G-Netzwerken, um die Digitalisierung der Gesellschaft voranzutreiben.
Claudia Bingel: Darüber hinaus müssen wir die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum befriedigen. Die Bundesregierung sprach von 400.000 Einheiten, die pro Jahr gebaut werden sollten. 2024 werden voraussichtlich 235.000 Einheiten fertiggestellt.
Gleichzeitig muss die Bauwirtschaft ihre eigene Transformation vollziehen. Bau und Nutzung von Gebäuden tragen etwa ein Drittel zum CO2-Ausstoß Deutschlands bei. Daher müssen neue Materialien verwendet und nachhaltiger gebaut werden. Und schlussendlich muss sich die außerordentlich heterogene Bauwirtschaft stärker vernetzen und digitalisieren. Damit Projekte auch zeitnah umgesetzt werden können, müssen zudem die Genehmigungs- und Vergabeverfahren vereinfacht und beschleunigt werden.
THIS: Wie können Bauunternehmen mit diesen Herausforderungen umgehen?
Claudia Bingel: Viele dieser Risiken liegen außerhalb des Einflusses der Unternehmen. Eine genaue Analyse von Angebot, Nachfrage und Wettbewerb, sowie eine solide Finanzplanung sind erforderlich, um mit steigenden Kosten, aber plötzlichen Auftragseinbrüchen umzugehen.
Torsten Überall: Zudem lohnt es sich, durch verschiedene Projekte die eigenen Risiken zu diversifizieren. Dadurch lassen sich Beeinträchtigungen ausgleichen. Bauunternehmen sind so weniger anfällig für plötzliche Marktveränderungen. Und schlussendlich braucht es die Fähigkeit zu Flexibilität sowie ein erfahrenes, kompetentes Team, das Risiken erkennt und effektive Lösungen findet.
THIS: Was bedeuten diese Veränderungen für ihre eigene Branche, und was kann die Bauwirtschaft von ihren Risikoberatern erwarten?
Claudia Bingel: Die Entwicklungen in der Bauindustrie – Digitalisierung, neue Rollen und Verantwortlichkeiten, veränderte Methoden, andere Baustoffe und Konzeptideen – finden ihren Einzug auch ins Risikomanagement. Aufgrund der steigenden Komplexität, mit der die Baubranche konfrontiert ist, sehen wir eine wachsende Nachfrage sowohl nach Risikoberatung wie auch -deckung. Insbesondere bei größeren Projekten setzten sich die leitenden Bauunternehmen zunächst einmal mit ihren Risikoberatern zusammen und überlegen, wie sich Risiken vermeiden bzw. reduzieren lassen.
Viele der Anforderungen und die wachsenden Großprojekte lassen sich nur im Verbund lösen. Bauunternehmen schließen sich zu Allianzen zusammen, die auch gemeinsam Risikoschutz und -deckung einkaufen. Sie nutzen vermehrt Rundumschutzpolicen, die neben dem Bauherrn auch alle Baubeteiligten (Planer und Ausführende) schützen. Bisweilen mangelt es noch an der Akzeptanz dieser kombinierter Schutzpolicen, denn die neuen „All in One“-Versicherungen bedeuten für viele Baubeteiligte eine erhebliche Veränderung.
THIS: Was bedeutet das für Marsh?
Claudia Bingel: Viele bislang im Bausegment zurückhaltende Risikoträger entdecken neuerdings den Bedarf an adäquaten, neuen Versicherungsmodellen und bewegen sich zeichnungsfreudig auf Bauinvestitionen zu. Die Rahmenbedingungen für einen Wechsel vom bisher vorherrschenden, fragmentierten Versicherungseinkauf jedes einzelnen Bauunternehmens hin zum projektbezogenen und zielgerichteten Schutzkonzept für Alle könnten daher kaum besser sein.
THIS: Das klingt doch gut ...
Torsten Überall: Zusammenfassend lässt sich sicherlich sagen, dass die Nachfrage nach Haftpflicht-Vorlauf-Deckungen (sog. PreCAR-Deckungen inkl. Planungshaftpflichtversicherung) stetig steigt. Allerdings ist die Zeichnungsfreude für angedachte Bauvorhaben mit geringer Planungstiefe im frühen Planungsprozess noch zurückhaltend. Die Versicherer zögern oft, Deckungskapazitäten für Ansprüche aus Planungsmängeln vor Baubeginn bereitzustellen.
THIS: Geringe Planungstiefe – bezieht sich das auf Bauprojekte ohne vorhandene 3D-Modelle?
Claudia Bingel: Ein Stück weit schon; die Digitalisierung wird oft genannt als ein wichtiger Baustein, um die Belastbarkeit der Branche zu stärken. Vor dem Hintergrund der Veränderungen in der Baubranche, der Größe und Vielschichtigkeit der Projekte sowie der Vielzahl an Unternehmen und Akteuren, die an einem Projekt beteiligt sind, wird die Digitalisierung immer wichtiger.
Torsten Überall: Das Building Information Modeling (BIM) ist eine solch innovative Methode, bei der digitale Modelle und Informationen für ein Gebäude oder eine Infrastruktur über den gesamten Lebenszyklus erstellt, verwaltet und geteilt werden. Das System fungiert als eine Schnittstelle, über die die unterschiedlichen Partner eines Projektes ihre Informationen austauschen können – unabhängig von ihrer eigenen Software. Es trägt so zu einer Verbesserung der Qualität von Bauprojekten bei, reduziert Bauzeit und Kosten und optimiert die gesamte Lebenszyklusleistung von Immobilien.
THIS: … und erleichtert so Versicherern die Beurteilung von Bauprojekten?
Torsten Überall: Ja, aber nicht nur. BIM ist aber auch eine spezielle Anwendung von Computersimulations- und Modellierungstechniken zur Analyse und Vorhersage der Energieleistung und des Gebäudeenergieverbrauchs. Es ermöglicht, alle Vorgänge von der Entwurfs- und Ausführungs- bis hin zur Verwaltungsphase darzustellen und hilft Planern und Ingenieuren, notwendige Analysen während der verschiedenen Entwurfsphasen durchzuführen und die Energieeffizienz des Gebäudes zu optimieren sowie Energievorschriften und -normen einzuhalten.
Das System erhöht also die Effizienz und Transparenz von Bauvorhaben, reduziert Risiken und dient, um auf Ihre Frage zurückzukommen, damit auch den Versicherungspartnern als eine Schnittstelle, um ihre Beratung bzw. Deckung einzubringen.
THIS: Marsh war ja als Partner des Deutschen Baupreises aktiv an der Preisverleihung beteiligt. Wie beurteilen Sie die Ergebnisse des Wettbewerbs?
Claudia Bingel: Sehr positiv. Die gegenwärtigen Herausforderungen sind wirklich vielfältig, und die deutsche Bauwirtschaft verfügt über eine Fülle herausragender Unternehmen, die unabhängig von Größe und Mitarbeiterzahl mit Innovation, unternehmerischem Denken und Handeln sowie großem Engagement die Branche voranbringen. Es haben gute und leistungsfähige Unternehmen gewonnen.
Torsten Überall: Uns haben auch die Gewinner in den Sonderkategorien beeindruckt. Hier kam es auf eine gute Idee oder ein gutes Konzept an, und einige kleinere Bauunternehmen haben einige größere übertrumpfen können. Das zeigte eindrucksvoll, dass sich Leistung lohnt und Erfolg nicht nur von der Unternehmensgröße abhängt. Gratulation an alle Preisträger.