Von Lauten und Leisen
„Still“ ist der Titel des kürzlich erschienenen, auf angenehme Art belehrenden Buchs der amerikanischen Autorin Susan Cain. Naheliegend, um die Leisen, die Stillen, die in sich Gekehrten, um die in einer lauten, dem Reißerischen verfallenen Welt ob solch ungewöhnlichen Verhaltens Belächelten und Verkannten geht es der Autorin. Doch obwohl sie klar eine Lanze für die Zurückhaltenden, die Innengeleiteten bricht, hebt sie diese Leisen und Stillen nicht in den Himmel und stürzt die forsch
vorpreschenden, von tieferem Nachdenken oft verschonten
Außengeleiteten nicht in die Hölle – obwohl sie Höllisches heraufbeschwören können wie Cain am Beispiel der jüngsten Weltfinanzkrise darlegt.
Aufstieg der Lauten
Der Aufstieg der forschen Selbstdarsteller begann Cain zufolge zu Beginn des 20. Jahrhunderts. An Dale Carnegies Metamorphose vom linkischen Farmjungen zum Verkäufer und schließlich zur Rhetorik-Ikone macht sie den Siegeszug des „Ideals der Extraversion“ deutlich. Amerika verwandelte sich von einer „Charakterkultur“ in eine „Persönlichkeitskultur“. In der Charakterkultur war der Idealmensch ernsthaft, diszipliniert und ehrbar. Was zählte, war nicht so sehr der Eindruck, den man in der Öffentlichkeit hinterließ, sondern wie man sich verhielt, wenn niemand zugegen war.
Mit dem Wechsel zur Persönlichkeitskultur fingen die Amerikaner an, vor allem darauf zu schauen, wie andere sie wahrnahmen. Sie waren fasziniert von Menschen, die forsch und unterhaltsam waren: Die gesellschaftliche Rolle, die jedem in der neuen Persönlichkeitskultur abverlangt wurde, war die eines Darstellers. Jeder Amerikaner sollte sich darstellen können. Nun, dieses neue Persönlichkeitsideal hat eine glänzende Karriere gemacht. Selbstdarsteller soweit das Auge reicht in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
Alte Tugenden
Hatten die Charakterratgeber des 19.Jahrhunderts noch Tugenden hervorgehoben wie bürgerliches Engagement, Pflichtbewusstsein, Fleiß, Hilfsbereitschaft, Ehre, Ruf, Moral Manieren und Integrität, wurden in den nun erscheinenden Ratgebern des 20. Jahrhunderts vollkommen andere Eigenschaften angepriesen. Man war wünschenswerterweise, und das nicht
unmaßgeblich mit durch Carnegies Wirken beeinflusst, unwiderstehlich, faszinierend, atemberaubend, attraktiv, strahlend, dominant, kraftvoll und energiegeladen. Es ist doch interessant zu wissen, welches kollektive geistige Gepäck die gängigen
Verhaltensvorstellungen und – weisen prägt. Neben dem, was uns die Natur als – psychologisch gesprochen – Temperament, als Grundverhaltensausstattung sozusagen, in die Wiege gelegt hat.
Und nicht weniger interessant zu wissen, wie brisant sich dieses geistige Gepäck auswirken kann. Wenden wir uns vor diesem Hintergrund nun der die Welt erschütternden Bankenkrise zu. Verachtung für Furcht, Unsicherheit und Bedenken und für die Art Menschen, die dazu neigen – ist es was den Crash mit verursachte, sagt Boykin Curry, leitender Direktor der Investmentfirma „Eagle Capital“, der , wie Cain berichtet, bei der Kernschmelze 2008 in der vordersten Reihe saß. Zu viel Macht war in den Händen aggressiver Risikogänger konzentriert, erklärte er Cain im Interview. „Menschen eines bestimmten Persönlichkeitstyps bekamen Kontrolle über Kapital, Institutionen und Macht. Und Menschen, die von der Veranlagung her vorsichtiger, introvertierter und mathematisch denken, wurden diskreditiert und beiseite geschoben.“
Die Leisen gingen unter
Und, im Blick auf das tendenziell generelle Geschehen in der Wirtschaft, noch ein aufschlussreicher: „Seit zwanzig Jahren hat sich die DNA fast jeder Finanzinstitution auf gefährliche Weise verändert“, sagte Boykin dem Magazin Newsweek auf der Höhe des Crashs. „Jedes Mal, wenn jemand am Tisch auf noch mehr Verschuldung und höheres Risiko drang, bestätigte sich in den folgenden Jahren, dass er >richtiglag<. Solche Menschen wurden ermutigt, sie wurden gefördert und sie bekamen Kontrolle über immer mehr Kapital. Jeder in einer Machtposition, der zögerte und für Vorsicht warb, wurde währenddessen >widerlegt<. Die vorsichtigen Typen wurden zusehends eingeschüchtert und bei Beförderungen übergangen. Sie verloren ihre Macht über das Kapital. Das geschah jeden Tag in fast jeder Finanzinstitution, bis wir am Schluss eine sehr spezifische Art von Menschen hatten, die die Dinge lenkten.“
Nun, nicht nur in den Finanzinstitutionen wie wohl jeder weiß und tagtäglich erfährt, der ein Unternehmen von innen kennt. Bedachtsamkeit erweist sich als nicht sehr glamourös in unserer Welt der großen Begierde und des schnellen Laufs. Wenn man, schreibt Cain, um ein Genie zu werden, ein Prozent Intuition und 99 Prozent Schweiß (Transpiration) braucht, dann tendieren wir als Kultur dazu, dies eine Prozent zu vergöttern. Wir lieben sein Funkeln und Glitzern. Aber die eigentliche Stärke liegt in den 99 Prozent.
Die Balance halten
„Ich bin gar nicht so klug“, sagte Einstein, der ein ausgeprägter Introvertierter war. „Ich setzte mich einfach länger mit den Problemen auseinander.“ Meine Aussagen, so Cain, sollen diejenigen, die sich gerne weit vorwagen, weder verunglimpfen noch die Nachdenklichen und Vorsichtigen blind glorifizieren. Es geht darum, dass wir Euphorie überbewerten und deren Risiken ignorieren. Wir müssen wieder eine Balance zwischen Aktion und Reflexion herstellen. Wie unsere Altvorderen zu sagen pflegten: Ihr Wort in Gottes Ohr!
Lesenswert: Still – Die Bedeutung von Introvertierten
in einer lauten Welt. Riemann Verlag, München 2011,
447 Seiten, € 19,95
Autor: Diplom-Betriebswirt Hartmut Volk,
Redaktionsbüro Wirtschaft&Wissenschaft,
Bad Harzburg,
E-Mail: hartmut.volk@t-online.de