Seelenalarm

Steigende Krankschreibungen infolge psychischer Erkrankungen geben zu denken. Worauf deuten sie hin? Auf einen dem Menschen wenig bekömmlichen Zuschnitt der modernen Arbeitswelt? Die nachlassende psycho-physische Belastbarkeit? Eine generelle Überbetonung des Psychischen?

 

Druck

Der Zuschnitt der modernen Arbeitswelt ist das Ergebnis eines immensen globalen Innovations-, Kosten- und Wettbewerbsdrucks. Der ohnehin reichlich vorhandene Überdruck im System wird seit den 80iger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die Idee des Shareholder Value noch weiter erhöht. Nicht nur die arbeitsbedingten psychischen Probleme deuten darauf hin, dass es sinnvoll und ratsam wäre, die globalen Arbeitsbedingungen zu überdenken. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat dazu ein fulminantes Buch geschrieben: „Der flexible Mensch – Die Kultur des neuen Kapitalismus“. Es ist unlängst in der 8.Auflage erschienen.

Und was nun die vermeintlich nachlassende Belastbarkeit der heutigen Arbeitnehmer betrifft, da gibt unter anderem eine Beobachtung sehr zu denken: Dieselben Menschen, die sich am Arbeitsplatz ausgebrannt und überlastet durch den Tag schleppen, stehen in ihrer Freizeit ganz erhebliche sportliche oder ehrenamtliche Anstrengungen und Belastungen stramm durch. Sich zu fordern beziehungsweise gefordert zu werden scheint also nicht quasi automatisch an der Seele zu nagen. Wieder kommen die Umstände in den Blick, unter denen Belastungen ertragen werden müssen. Sinngemäß dasselbe trifft auf die in letzter Zeit thematisierte Überpsychologisierung des Arbeitslebens zu. Wieder ist die Betrachtung auf den Vordergrund fixiert und der Problemhintergrund bleibt unbeachtet. Dabei liegt der keineswegs im Dunkeln, denn mehr und mehr wird erkannt, der Mensch ist beileibe nicht das rationale Wesen, als das er immer dargestellt wird. Er ist vielmehr ein Wesen mit ausgeprägten emotionalen Bedürfnissen. Ein Wesenszug, der im Arbeitsprozess kaum zu seinem Recht kommt. So gesehen ist es eigentlich kein Wunder, dass sich dieses Bedürfnis sozusagen auf Umwegen seine Befriedigung sucht.

 

Freude und Anerkennung

Also sind die Klagen der Unternehmen über die abnehmende Belastbarkeit der Arbeitnehmer, insbesondere der jüngeren, völlig aus der Luft gegriffen? Im Blick auf einzelne Fälle, sind sie sicher nicht unberechtigt und geben Anlass zur Besorgnis. Im Blick aufs Ganze gehen sie an der eigentlichen Problematik vorbei. Um im modernen Arbeitsleben psycho-mental nicht früher oder später in die Gefahr zu kommen zu entgleisen, sind zwei Voraussetzungen von Bedeutung: Erstens braucht jeder, um eine gewisse Freude an der Arbeit zu haben und dadurch wieder einen gewissen Kräfterückfluss zu bekommen, Wertschätzung und Anerkennung. Zweitens müssen Menschen gelernt haben, auch schwierigere und wie es heute immer mehr der Fall ist unklare Situationendurchzuhalten und nicht sofort aufzugeben, wenn sich eine Situation als  herausfordernd erweist.

Auch das gewachsene Anspruchsdenken, so ist zu hören, begünstige eine nicht zu übersehende (vor)schnelle Wehleidigkeit. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass sich Anspruchsdenken und Wehleidigkeit bedingen. Eine Tatsache, die sich auch in der Zahl an Arztbesuchen ausdrückt. Aber ist es wirklich angemessen, dem arbeitenden Menschen pauschal ein ausgeprägtes Anspruchsdenken zu attestieren? Beileibe nicht wenige Beschäftigte haben in den zurückliegenden Krisenjahren ihre Ansprüche im Interesse der Firma zu deren Überlebens- und damit zur Arbeitsplatzsicherung zurückgefahren.

 

Erziehung

Also dürfte auch hier das eigentliche Problem wieder hinter dem vordergründigen Problem liegen. Müsste eine Frage in diesem Zusammenhang nicht lauten: Trägt die familiäre und schulische Erziehung, trägt die universitäre und/oder berufliche Ausbildung wirklich realitätsnah dazu bei, junge Menschen in ihrem ureigensten Interesse auf das vorzubereiten, was sie in der heutigen Arbeitswelt erwartet. Oder, wenn man so will, dem sie psycho-mental gewachsen sein müssen? Starke Zweifel daran sind erlaubt. Wohl gemerkt, es geht nicht darum, den Menschen stromlinienförmig auf das Arbeitsleben zuzuschneiden. Notwendig aber wäre beispielsweise wieder zu vermitteln, dass Selbstdisziplin eine wesentliche Voraussetzung für Selbstbehauptung ist, dass  es ohne Routinetätigkeiten keine funktionierenden Arbeitsabläufe gibt, dass Karriere kein selbstlaufender, noch nicht einmal ein selbstverständlicher Prozess ist, dass Scheitern ohne daran zu scheitern ein wichtiger Wert für den Weg durch das Berufsleben ist. Oder daran, was Goethe als sein Lebensrezept  ausgab: Schwerer Dienste tägliche Bewahrung, sonst bedarf es keiner Offenbarung. Ansonsten: Kluges dazu steuert Jürgen Overhoff mit seinem Buch „Vom Glück lernen zu dürfen – Für eine zweckfreie Bildung“ bei. Zeigen sich nicht heute in den Unternehmen zumindest mit Probleme, die anderen Orts ihren eigentlichen Ursprung haben? Die Unternehmen sind auf topfitte Leute angewiesen, wollen sie im Markt standhalten. Dass auch dieses Marktgeschehen an sich zu hinterfragen ist, zeigt Mathias Binswanger in seinem Buch „Sinnlose Wettbewerbe – Warum wir immer mehr Unsinn produzieren“.

 

Entwicklungen

Unterstellt, die Zeichen der Zeit werden nicht erkannt. Wie entwickeln sich die Dinge dann weiter? Was ist die  wahrscheinliche Prognose? Dann dürfte unsere Gesellschaft auf eine harte Belastungsprobe zusteuern. Ansätze für eine diesbezügliche tendenziell anarchische Entwicklung sind schon heute nicht zu übersehen. Nicht zu übersehen ist aber auch, dass sich das Bewusstsein für diese Entwicklungsmöglichkeit schärft, dass wir auf gesellschaftlicher Ebene diesbezüglich zur Besinnung kommen. Die Frage ist nur, wie lang ist der Bremsweg.

Die Weisheit, soll das Universalgenie Leonardo da Vinci gesagt haben, sei die Frucht der Beobachtung und die Tochter der Erfahrung. Was wir beobachten und was wir erfahren, beides deutet darauf hin, dass, um zum Ausgangspunkt zurückzukommen, mehr Weisheit im Umgang mit den immer deutlicher hervortretenden psychischen Problemen gefragt ist.

Dipl-Betriebswirt Hartmut Volk, Freier Wirtschaftspublizist,

Redaktionsbüro Wirtschaft&Wissenschaft, Bad Harzburg

E-Mail: Hartmut.volk@t-online.de

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