„Es gibt keine Erdbaustelle ohne Geokunststoffe mehr“

Im Interview: Dipl.-Ing. Gerhard Bräu, Wissenschaftler an der Technischen Universität München

Gerhard Bräu ist Wissenschaftler an der Technischen Universität München, und dort im Zentrum Geotechnik stellvertretender Betriebsleiter. Seit mehr als 25 Jahren beschäftigt sich der Bauingenieur u.a mit Geokunststoffen und bringt jungen Bauingenieuren und Ingenieurgeologen den Einsatz dieser Produkte nahe. Im Interview mit www.geo-site.com spricht der Münchener über die Rolle von Geokunststoffen im Erdbau und die Herausforderungen beim Wissenstransfer.

Angefangen als junger Wissenschaftler, engagiert sich Bräu bis heute in verschiedenen Gremien der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) und der Deutschen Gesellschaft für Geotechnik (DGGT), die Regelwerke für den Einsatz von Geokunststoffen im Bauwesen erarbeiten. Das wohl wichtigste Regelwerk sind die „Empfehlungen für den Entwurf und die Berechnung von Erdkörpern mit Bewehrungen aus Geokunststoffen“ (EGBEO). Dieses, erstmals 1997 auf den Markt gebrachte, Standardwerk hat die Fachsektion „Kunststoffe in der Geotechnik“ der DGGT vollständig überarbeitet und erweitert. Die zweite Auflage des nun mehr als 300 Seiten umfassenden Regelwerkes ist im April 2010 erschienen. Bräu ist zudem im Council der International Geosynthetic Society (IGS), die im Jahr 2014 in Berlin die 10. Internationale Geokunststoff-Konferenz (10ICG) abhält. Bräu ist nicht nur Editor der IGS News, sondern auch im Komitee, das damit beauftragt ist, diese alle vier Jahre stattfindende Konferenz vorzubereiten.


Herr Bräu, wie wichtig sind Geokunststoff-Produkte innerhalb der Geotechnik?

Gerhard Bräu: Seit vielen Jahren biete ich an der TU München separate Vorlesungen über Geokunststoffe an, um junge Bauingenieure auf diese Produkte und deren Einsatzmöglichkeiten in verschiedenen Bauverfahren hinzuweisen. Und ich sage dem Nachwuchs immer „Es gibt heute keine Erdbaustelle mehr, wo nicht auch Geokunststoffe im Einsatz sind“. Mal mehr, mal weniger. 1984 hatte ich die ersten Berührungen mit Geokunststoffen. Damals steckte das Thema noch in den Kinderschuhen, denn die grundsätzliche Wirkungsweise von Geokunststoffen war weitestgehend unbekannt. Das hat sich heute dank eingehender Forschung geändert. Wir gehen bei der Technischen Universität München von seiten der Baupraxis an das Thema heran. Wir sind auf allen möglichen Großbaustellen vor Ort und schauen, wie sich die unterschiedlichsten Bauweisen, bei welchen Geokunststoffe zum Einsatz kommen, verhalten.


Sie haben sich in den letzten Jahren intensiv mit der Erforschung von Geogittern beschäftigt. Was sind ihre Erkenntnisse?

Gerhard Bräu: Unser Institut war intensiv
bei der Entwicklung neuer Produkte beteiligt. Untersucht haben wir unter anderem die Wirkungsweisen von unterschiedlichen Geogitter-Arten. Wichtig war immer die Frage „Was tut dem Boden gut, und was tut der Bauweise gut?“. In sogenannten Pull-Out-Versuchen haben wir uns mit der Bemessung von Geogitter-Systemen beschäftigt. Grundsätzlich ist Boden auf Druck gut belastbar. Eine „Zugfestigkeit“ besitzt Boden jedoch im Allgemeinen nicht. Sie müssen dem Boden also z. B. mit Geogitter-Bewehrungen helfen, eine Zugfestigkeit zu schaffen, um zum Beispiel steilere Böschungen zu bauen oder Dämme auf weichem Untergrund zu errichten. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass offene Geogitter-Strukturen höhere Verbundwerte erreichen können als engmaschige Gittersysteme bzw. Vliesstoffe oder Gewebe. Bei offenen Geogittern kann sich der Boden durch die Öffnungen hindurch verbinden, was den höheren Verbundwert erklären kann. Der Bewehrungseffekt von Geogittern muss allerdings auf Dauer sichergestellt sein. Eine Vielzahl von Untersuchungen führte deshalb zu verschiedenen Abminderungsfaktoren, die einen sicheren Langzeiteinsatz gewährleisten. Damit bauten wir in Deutschland einen Mindeststandard auf, der sich weltweit immer mehr durchsetzt.


Mit der Angabe der reinen Kurzzeitfestigkeit ist es also nicht getan?

Gerhard Bräu: Natürlich nicht. Neben der Darstellung der Bemessungsverfahren ist es wichtig, die Festigkeit der Produkte richtig zu beschreiben. Und hier gibt es einen Unterschied zwischen der vom Hersteller garantierten Kurzzeitfestigkeit und der Bemessungsfestigkeit. Die Bemessungsfestigkeit ist Grundlage der Bemessung – wie der Name schon sagt – und sie ist dann mit den Faktoren für das Langzeitverhalten der Geokunststoffe, die Einbaubeanspruchungen, die Verbindung von Geokunststoffen untereinander und mit Frontelementen, andere Umweltbedingungen, dynamische Abminderungsfaktoren und den standardmäßigen Sicherheitsbeiwerten nach DIN 1054 in der Bodenmechanik zu beaufschlagen, woraus dann die erforderliche Kurzzeitfestigkeit resultiert. Da die Abminderungsfaktoren produktspezifisch sind, kann somit die Kurzzeitfestigkeit vom Aufsteller einer Berechnung nicht produktneutral ausgeschrieben werden. Er muss vielmehr die Randbedingungen angeben, damit der Hersteller bzw. Lieferant das richtige Produkt auswählen kann. Beide Begriffe, Kurzzeitfestigkeit und Bemessungsfestigkeit, führen immer wieder zu Verwechselungen bei der Ausschreibung und beim Einkauf der Produkte. Das wiederum führt entweder zu völlig überdimensionierten und damit überteuerten Projekten oder zu Sicherheitsproblemen. Die Ausschreibungstexte und „Empfehlungen für den Entwurf und die Berechnung von Erdkörpern mit Bewehrungen aus Geokunststoffen (EBGEO)“ sind sachlich in Ordnung. Was wir brauchen, ist mehr Schulung. Wünschenswert wären Fachingenieure, die von der öffentlichen Hand bestellt werden.


Apropos Sicherheit: Geogitter sind polymere Produkte. Wie wird die Qualität überprüft?

Gerhard Bräu: Sobald im Bauwesen die Überwachung funktioniert, wird sicher und preiswert gebaut. Diese Erkenntnis ist unbestritten. Leider sind die Kontrollen im Erdbau nicht bzw. aus Gründen der Personaleinsparung nicht mehr so etabliert wie zum Beispiel im Asphalt-Oberbau. Da diskutiert niemand darüber, dass man in bestimmten Abständen Proben entnimmt und erst dann weiterbaut, wenn alles in Ordnung ist. Im Erdbau sind solche Kontrollen auf dem Papier geregelt, sie werden aber kaum umgesetzt. Eingangsprüfungen finden aufgrund von zeitlichen Nachteilen und damit aus Kostengründen oft nicht statt. Dafür haben die Bauherren, meist die öffentliche Hand, schlichtweg kein Geld. Sie verlassen sich auf das sogenannte Zwei-Plus-Modell. Die Hersteller führen eine Eigenkontrolle durch und lassen eine zweite Instanz prüfen, ob diese Eigenkontrolle auch tatsächlich stattgefunden hat. Damit bekommen sie dann ihr CE-Kennzeichen. Das widerspricht aber der in Deutschland üblichen Eingangs- und Kontrollprüfung bzw. der früher üblichen Fremdüberwachung. Besser wäre es, wenn das Produkt zertifiziert wäre, indem sich der Hersteller verpflichtet, sein Produkt zweimal im Jahr einer freiwilligen Prüfung durch sachverständige Dritte zu unterziehen. Damit wäre ein hoher Qualitäts-Standard gesichert.
Das Straßenbauregelwerk ZTV E-StB 09 schreibt neuerdings vor, dass Bauunternehmen in Deutschland vor dem Einsatz von Geokunststoffen verpflichtet sind, eine Baustoffeingangsprüfung (BEP) vornehmen zu lassen, d.h. die angelieferte Ware ist streng zu kontrollieren und es ist der Nachweis zu erbringen, dass das eingesetzte Material den vorgegebenen Anforderungen entspricht. Daraufhin haben der IVG (Industrieverband Geokunststoffe e.V.) und die BASt (Bundesanstalt für Straßenwesen) ein Zertifizierungsverfahren im Sinne der ZTV E-StB 09 entwickelt. Somit sind wir in Deutschland auf dem richtigen Weg.


Unlängst ist ein neues Regelwerk, die EBGEO, erschienen. Was beinhaltet sie und welche Rolle spielt die EBGEO?

Gerhard Bräu: In diesem Regelwerk steht alles zu den Bewehrungs- und Verbundwirkungen von Geokunststoffen im Erdbau. Viele Erfahrungen aus der Baupraxis sind dort mit eingeflossen. Nun müssen diese Empfehlungen auch angewandt werden. Wichtig ist der Wissenstransfer.


Für den Wissenstransfer sind unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Geotechnik (DGGT) und die International Geosynthetic Society (IGS) zuständig. Was sind die Unterschiede zwischen beiden Gesellschaften?

Gerhard Bräu: Im Erdbau sind Geokunststoffe ein wichtiges Material, das dort zum Einsatz kommt. In Deutschland sind Geokunststoffe innerhalb der DGGT im Themenkreis Geotechnik mit angesiedelt und dort gut repräsentiert. Die IGS beschäftigt sich primär nicht mit der Geotechnik, sondern geht das Thema von der Seite der Geokunststoffe, also produktorientiert an. Da beide Gesellschaften aber wissenschaftlich orientiert und damit nicht kommerziell aufgestellt sind, sondern daran interessiert sind, die Bauweise bekannt zu machen, Forschung zu unterstützen und Regelwerke zu erstellen, arbeiten beide Vereinigungen über internationale Verflechtungen gut zusammen.


Wie ist der Wissenstransfer organisiert?

Gerhard Bräu: Grundsätzlich unterstützen beide Organisationen mit umfangreichen Programmen bereits die Ausbildung der Studenten. Wir hier in München haben die Geokunststoffe seit vielen Jahren in der Lehre auch mit eigenen Vorlesungen integriert. Daneben wollen beide Gesellschaften die Bauweise, den Stand der Technik und Regelwerke auch bei den bereits in der Praxis Stehenden publik machen. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten und Ebenen. Zum einen geht es um den reinen Anwender. Den erreicht man lokal und regional in Kleingruppen-Schulungen am besten. Die nächste Stufe wären bundesweite Tagungen in deutscher Sprache, wie sie zum Beispiel die Fachsektion „Kunststoffe in der Geotechnik“ seit 1991 alle zwei Jahre in Deutschland anbietet. Dort bringen wir Fachleute zusammen, tauschen die neuesten Erkenntnisse aus und liefern interessante Baustellenberichte. In diese Ebene gehören sicherlich auch die von den Herstellern mitunter sehr anspruchsvoll durchgeführten Kolloquien. International gesehen bilden die sogenannten Regionalkonferenzen die für den deutschen Markt unterste Stufe der Veranstaltungen, da hier teilweise vom deutschen Markt abweichende Technologien diskutiert werden. Im Jahr 2004 fand zum Beispiel die EURO-GEO in München statt. Solche Veranstaltungen werden bereits in englischer Sprache abgehalten und erreichen den regionalen Anwender schon etwas weniger. Regionalkonferenzen sind alle vier Jahre. Die übergeordnete internationale Konferenz der IGS ist dann die höchst angesehene Konferenz. Sie wird ebenfalls alle vier Jahre durchgeführt: 2006 war sie in Yokohama, 2010 ist sie in Brasilien und 2014 hat die IGS die 10. Konferenz nach Berlin vergeben.


Sie bereiten die 10. Internationale Geokunststoff-Konferenz in Berlin vor. Wie ist der Stand der Dinge? Welches Publikum erwarten Sie?

Gerhard Bräu: Diese Veranstaltung ist mit vielen Parallelvorträgen zu planen und wird grundsätzlich in englischer Sprache abgehalten. Deshalb werden wir die regionalen deutschen Anwender sowie die Ein- und Verkäufer wahrscheinlich nicht so stark erreichen. Und das ist genau die Kritik, die den internationalen Konferenzen immer wieder entgegenschlägt. Als Reaktion auf diese Kritik hat sich die IGS entschieden, sogenannte Trainings-Kurse für Anwender anzubieten. Die wird es in Brasilien und auch in Berlin geben. Es ist allerdings fraglich, ob der Teilnehmer eines solchen Trainings anschließend auch zur Konferenz geht. Wir haben uns in Berlin für ein Konferenz-Zentrum in der Nähe des zukünftigen Flughafens Berlin-Brandenburg International entschieden. Hotel, Ausstellungs- und Vortragsräume sind in einem Komplex. Auch findet die Konferenz zusammen mit der Baugrundtagung der DGGT statt. Wir rechnen mit 850 Teilnehmern. Mit Sicherheit werden die Nachhaltigkeit und die Emissionsreduzierung, sowie das Kostensparpotenzial mit Geokunststoffen ein großes Thema sein.n

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