Bauablaufstörungen und Bauprozesse, Teil 2

Rechnerunterstützte Anwendung zur Erfassung von Bauablauf- störungen und Bewertung ihrer Auswirkungen auf Bauprozesse

Eine wesentliche Aufgabe sowohl des Arbeitsvorbereiters als auch Bauleiters besteht darin, störungsbehaftete Bauabläufe – zur Erhöhung ihrer Störungsrobustheit – zu verbessern. Durch die Identifizierung und anschließende Dokumentation der während einer Bauproduktion aufgetretenen Störungen können Planungs- und Ausführungsfehler, wenn auch oft nur nach Beendigung eines Bauprojekts, identifiziert werden. Im ersten Teil des vorliegenden Beitrags wurde hierzu ein Störungskatalog vorgestellt, mit dem Störungsschwerpunkte erkannt und Ansätze zur Verbesserung der Prozesse eingeleitet werden können.

In Teil 2 wird nun auf ein Praxisbeispiel unter Verwendung dieses Softwaretools eingegangen. Weitere Einsatzmöglichkeiten des Tools für den täglichen Praxiseinsatz in Bauunternehmen sowie eine Übersicht der verwendeten Literatur runden den Beitrag ab. Abschließend wird Bauunternehmen und Softwarehäusern die Kontaktaufnahme mit dem Autor bzgl. möglicher Weiterentwicklungen der rechnerunterstützten Softwareanwendung angeboten.

 

6. Anwendung des Störungskatalogs an einem Praxisbeispiel

6.1 Störungserfassung

Die rechnerunterstützte Anwendung wurde an drei Pilotstudien aus der baubetrieblichen Praxis angewandt. Bei der im Folgenden beispielhaft dargelegten Studie handelt es sich um ein Reihenhausausbau von sieben Reihenhauseinheiten. Die Koordination und Projektverantwortung lag bei einem Generalunternehmen. Insgesamt waren zwölf verschiedene Gewerke bei diesem Ausbau beschäftigt. Für die verschiedenen Gewerkearbeiten wurden individuelle Starttermine sowie projektierte Fertigstellungstermine vorgegeben. Der in Abbildung 7 schematisch aufgeführte Ausschnitt des Bauablaufs – u.a. ohne Fundament- und Außenarbeiten– liegt der Studie zugrunde.

Unter Zuhilfenahme des Störungskatalogs wurden auf der Reihenhausbaustelle prozessspezifische Bauablaufstörungen ermittelt. Grundlage hierfür war eine auf der Baustelle durchgeführte Störungsaufnahme, bei der beobachtete Störungen und ihre jeweiligen Störungsdauern sowie Zwischenankunftszeiten ermittelt wurden. Die Daten wurden auf Basis der Erfahrung des auf der Baustelle tätigen Poliers und Bauleiters um weitere Störungen ergänzt, die bei ähnlichen Bauvorhaben in der Vergangenheit bereits aufgetreten waren. Während des neunwöchigen Untersuchungszeitraumes wurden insgesamt 141 Störungen in die Datenbank aufgenommen. Wie aus Abbildung 8 zu entnehmen ist, kommen zu einem hohen Prozentsatz Ausführungsfehler vor; fast die Hälfte aller Störungen können dieser Kategorie zugeordnet werden. Informationsfehler bzw. Lieferfehler rangieren auf dem zweiten bzw. dritten Platz der Einteilung nach Störungsursachen; 67 Störungen konnten als prozessbedingt bezeichnet werden; 55 Störungen waren einer Materiallieferung zuzuordnen und die restlichen 18 Störungen waren durch einen Personalausfall bedingt.

 

6.2 Ermittlung von Störungsdauern

Die Zeitaufnahmen der Störungsdauern sind im Sinne der Stochastik die einer Grundgesamtheit entstammende Stichprobe. Die Verteilung der Grundgesamtheit ist jedoch unbekannt. Um Störungen im Folgenden „funktional“ abzubilden und damit eine bessere Störungsvorhersage (u.a. für zukünftige Bauvorhaben) zu erreichen, wird ein Signifikanztest auf die Verteilungen der drei Störungskategorien durchgeführt. Um auf den Verteilungstyp der Grundgesamtheit schließen zu können, wurde für jede Stichprobe, nämlich:

n prozess-,

n personal- und

n materialbedingte Störungen,

die relative empirische Verteilung (relative Häufigkeitsverteilung) als Histogramm dargestellt. Dazu wurden benachbarte Werte zu Klassen zusammengefasst. Die Zusammenfassung zu Klassen ist notwendig, um die Approximationsvoraussetzung für die Anwendung des nachfolgend erläuterten Chi-Quadrat-Anpassungstests erfüllen zu können (vgl. zum Chi-Quadrat-Anpassungstest z.B. SCHLITTGEN 1993, S. 384 ff.).

Abbildung 9 zeigt beispielhaft das Histogramm für prozessbedingte Störungen, die mit einer Anzahl von 67 auf der Pilotbaustelle aufgenommen wurden. Aus der graphischen Darstellung der empirischen Verteilung als Histogramm erhält man Hinweise auf die Dichtefunktion und damit auf den Typ der gesuchten theoretischen Verteilung. Für die beiden anderen Störungskategorien ergab sich ein ähnliches Bild.

In dieser Pilotstudie war von Interesse, welches Verteilungsgesetz der Grundgesamtheit, aus der die Daten der drei Stichproben stammten, zugrunde liegt. Aus diesem Grund wurde ein Chi-Quadrat-Anpassungstest durchgeführt. Als Maß für die Abweichung zwischen empirischer und hypothetischer Verteilung dienen hierbei die Differenzen zwischen den beobachteten Häufigkeiten und den entsprechenden Häufigkeiten derselben Klasse. Getestet wurde die so genannte Nullhypothese H0, die der Alternativhypothese H1 entgegen gesetzte Annahme eines bestimmten Verteilungstyps. Die Alternativhypothese H1 ist hierbei die unbekannte Verteilung der Grundgesamtheit.

Die Nullhypothese H0 wird für jedes untersuchte Merkmal und die möglichen Wechselwirkungen zwischen den Merkmalen überprüft (vgl. SCHEFFLER 1997, S. 155 f.). Die Nullhypothese H0 besagt, dass kein Zusammenhang zwischen der angenommenen und der unbekannten Verteilung besteht. Wird die Nullhypothese abgelehnt, muss im Umkehrschluss von einem Zusammenhang ausgegangen werden.

Bei der Testentscheidung, ob die Nullhypothese H0 abzulehnen ist, wurde eine Irrtumswahrscheinlichkeit von α = 5 % vorgegeben. Wenn sie nicht abgelehnt werden kann, ist aber noch keine Aussage darüber getroffen, ob die angenommene Verteilung der unbekannten entspricht. Aus diesem Grund wird zusätzlich das beobachtete Testniveau (p-Wert) für jede Verteilung ermittelt, welches für eine Rangliste der Verteilungen (vgl. auch Abb. 10) nach der Güte der Anpassung herangezogen werden kann.

Abbildung 10 zeigt die Auswertung des Anpassungstests mit der Annahme einer Normal-, Gleich-, Exponentialverteilung sowie Gamma- und Weibullverteilung mit drei Parametern für die Nullhypothese H0 an. Pro Verteilungstyp wurde jeweils ein Test für die drei Störungskategorien durchgeführt. Die Ergebnisse des Anpassungstests zeigen, dass bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 % die Nullhypothese bei 15 von insgesamt 18 Tests abgelehnt werden muss. Die Verteilungstypen einer Normal-, Gleich-, Exponential- und Weibullverteilung werden bei allen Tests abgelehnt. Tendenziell ist die Betaverteilung in zwei von drei Störungskategorien anzunehmen. Bei prozess- und personalbedingten Störungen kann die Annahme einer Betaverteilung nicht abgelehnt werden. Die Betaverteilung schneidet auch bzgl. der beobachteten Testniveaus (p-Werte) als einzige Verteilung besser ab. Von den übrigen zeigte sich über alle Stichproben hinweg kein einziger Verteilungstyp als besonders günstig geeignet. Dies betrifft sowohl die absolute Auswertung der Ränge als auch die relative Auswertung der p-Werte. Bei den einzelnen Stichproben erreichte die Betaverteilung für prozess- und personalbedingte Störungsdauern ein hohes Testniveau. Das gute Abschneiden der Betaverteilung kann darauf hindeuten, dass sich dieser Verteilungstyp besonders flexibel an verschiedene Formen anpassen lässt.

Für die materialbedingten Störungsdauern konnte mittels des Chi-Quadrat-Anpassungstests keine Verteilungsannahme bestätigt werden. Womöglich liegt dies am geringen Umfang der Stichprobe für diese Störungskategorie. Folglich wird davon ausgegangen, dass die Annahme einer bestimmten Verteilung nur geringe Auswirkungen auf die Zielerreichungsgrade des Bewertungskonzeptes hat. Da für die beiden anderen Störungskategorien eine Betaverteilung bestätigt werden konnte, wird sie auch für die materialbedingten Störungsdauern herangezogen.

An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass generell mehrere mögliche Verteilungen mit annähernd gleich guter Anpassung vorliegen können, die als stochastisches Modell für die Verteilung einer Grundgesamtheit in Frage kommen. Ein einzig gültiges Modell wird es auch im Baubetrieb nicht geben. Die Güte der Anpassung kann auch von der Wahl des hier vorgestellten Testverfahrens abhängen und damit im Falle anderer Testverfahren, z.B. Kolmogorov-Smirnov-Test oder Anderson-Darling-Test zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen.

Zusammenfassend wird anhand der 141 dokumentierten Störungen mit ihren Störungsdauern die folgende Dichtefunktion der zugrunde gelegten Betaverteilung aus dem bereits in Abbildung 9 aufgezeigten Histogramm abgeleitet (vgl. Abb. 11).

Bei den realen Baustellenaufnahmen der beispielhaften Pilotstudie hat sich gezeigt, dass die dort analysierten Bauablaufstörungen überwiegend betaverteilte Zeitdauern aufweisen. Zu den Zwischenankunftszeiten wurde abschließend keine Auswertung vorgenommen, da die Grundgesamtheit der Daten pro Störungskategorie zu gering war.

 

7. Zusammenfassung und Blick auf weitere Anwendungsmöglichkeiten des Tools

Im Mittelpunkt dieses Beitrags stand eine rechnerunterstützte Anwendung, die in einem Bauunternehmen zur Erfassung von Bauablaufstörungen und Bewertung ihrer Auswirkungen auf Bauprozesse praxisnah eingesetzt werden kann.

Sie bietet dem Polier und Bauleiter nicht nur eine Hilfestellung bei der Erfassung von Bauablaufstörungen, sondern die rechtzeitige und lückenlose Dokumentation kann auch die finanziellen und bauvertraglichen Ansprüche eines Bauunternehmens sichern und durchsetzen sowie unberechtigte Forderungen von Vertragspartnern abwehren. Genauso wichtig ist auch die Hilfestellung, die das Tool Arbeitsvorbereitern bzw. Bauplanern mitunter liefern kann, nämlich:

n bereits in der Phase der Arbeitsvorbereitung Auswirkungen von Störungen auf zukünftige Bauabläufe systematisch analysieren und schließlich störungsrobuste Abläufe planen zu können.

n prospektiv Dauern und Häufigkeiten von Störungen zu ermitteln, die mit in die Arbeitsvorbereitung zukünftiger Bauprojekte – z.B. als Risikoabschätzungen bei der Ermittlung von Vorgangsdauern – einfließen können.

n Lieferanten bzw. Nachunternehmer hinsichtlich Materialqualität bzw. erbrachten Arbeitsleistungen zu bewerten.

n einzelne Gewerke hinsichtlich Häufigkeit der aufgetretenen Störungen zu analysieren bzw. Störungen festzustellen, die überdurchschnittlich häufig bei bestimmten Arbeiten oder Gewerken aufgetreten sind. Die Störungen lassen sich einzeln nach Gewerken selektieren und somit gezielt statistische Auswertungen durchführen, um Verteilungstypen für Störungen abzuleiten.

Der in diesem Beitrag vorgestellte Störungskatalog kann weiterhin als Grundlage zur Aufdeckung von Zusammenhängen zwischen den Gründen für das Auftreten einer Störung, eventuell schon vorausgegangenen Störungsarten und den Auswirkungen einer Störung erweitert werden. Die methodische Identifizierung und strukturierte Dokumentation dieser Zusammenhänge kann mittels einer Störungsbaumanalyse erfolgen, die auf einer Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA) basiert (vgl. z.B. PFEIFER 2001, S. 394 ff.).

Analog zu der bekannten Vorgehensweise der FMEA können hierbei die drei Kategorien „Auftreten“, „Bedeutung“ und „Entdeckbarkeit“ einer Störung zur weiteren Analyse herangezogen werden. Das Resultat einer FMEA ist die Ableitung einer Prioritätszahl, welche als Orientierungsgröße zur Bildung einer Rangfolge bestimmter Störungsarten dient. Dadurch wird das Erkennen von Störungszusammenhängen und deren Fortpflanzung über den gesamten Bauablauf ermöglicht und weiterhin der Erfahrungsschatz eines Bauunternehmens systematisch aufgebaut und zukünftigen Bauprojekten verfügbar gemacht.

 

8. Software

Der vorgestellte Ansatz zur Dokumentation und Auswertung aufgetretener Störungen kann mit kooperationswilligen Bauunternehmen und Softwarehäusern im Rahmen von Projekten weiterentwickelt werden. Sofern Sie hierzu konkrete Fragen und Anregungen haben, wenden Sie sich bitte an den Autor des Beitrags bzw. an das Institut für Arbeitswissenschaft und Betriebsorganisation (ifab).

9. Danksagung

Die Inhalte des Beitrags entstanden unter anderem am Institut für Arbeitswissenschaft und Betriebsorganisation (ifab) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT, vormals Universität Karlsruhe).

Institutsleitung des ifab: Prof. Dr.-Ing., Dipl.-Wirtsch.-Ing. Gert Zülch; gert.zuelch@kit.edu

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