Von Unwirksamkeiten und Zulässigkeiten
Kommentare zur aktuellen Rechtsprechung für die Bauwirtschaft
Drei wichtigen neuen Urteilen widmet sich unser Autor Rechtsanwalt Michael Werner in dieser Ausgabe von baumarkt+bauwirtschaft: Der Unwirksamkeit einer AGB-Sicherungsabrede der öffentlichen Hand (BGH), dem Wegfall der Geschäftsgrundlage bei einem extrem überhöhten Einheitspreis und extremer Mengenmehrung (BGH) und der Zulässigkeit von Nebenangeboten, wenn der Preis das einzige Zuschlagskriterium war (OLG Schleswig).
Unwirksamkeit einer AGB-Sicherungsabrede der öffentlichen Hand
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urteil vom 05. Mai 2011 – VII ZR 179/10 – (www.ibr-online.de) Folgendes entschieden:
Ein in Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Auftraggebers eines Bauvertrags enthaltenes Klauselwerk, wonach Gewährleistungsansprüche und Überzahlungsansprüche bis zur vorbehaltlosen Annahme der Schlusszahlung des Auftraggebers in Höhe von 10 % der Auftrags- bzw. Abrechnungssumme gesichert sind, benachteiligt den Auftragnehmer unangemessen und ist daher unwirksam.
Ein im Juli 2002 geschlossener Bauvertrag enthielt eine von einem öffentlichen Auftraggeber (AG) gestellte Sicherungsabrede als Besondere und Zusätzliche Vertragsbedingungen (BVB und ZVB) folgenden Inhalts:
BVB: Als Sicherheit für die Vertragserfüllung hat der Auftragnehmer (AN) eine Bürgschaft in Höhe von 5 % der Auftragssumme zu stellen. Nach Vorlage der Schlussrechnung und Erfüllung aller bis dahin erhobenen Ansprüche kann der AN verlangen, dass die Bürgschaft in eine Gewährleistungsbürgschaft in Höhe von 5 % der Abrechnungssumme (Bruttosumme) umgewandelt wird (Ziffer 6.1).
Als Sicherheit für die Erfüllung der Gewährleistungsansprüche einschließlich Schadenersatz und für die Erstattung von Überzahlungen werden 5 % der Auftragssumme einschließlich der Nachträge (Bruttosumme) einbehalten, nach Feststellung der Abrechnungssumme ist diese maßgebend. Der AN kann stattdessen eine Gewährleistungsbürgschaft stellen (Ziffer 6.2).
ZVB: Die Sicherheit für Vertragserfüllung erstreckt sich auf die Erfüllung sämtlicher Verpflichtungen aus dem Vertrag, insbesondere für die vertragsgemäße Ausführung der Leistung einschließlich Abrechnung, Gewährleistung und Schadenersatz sowie auf die Erstattung von Überzahlungen einschließlich der Zinsen. Die Sicherheit für Gewährleistung erstreckt sich auf die Erfüllung der Ansprüche auf Gewährleistung einschließlich Schadenersatz sowie auf die Erstattung von Überzahlungen einschließlich der Zinsen. Bei Bürgschaften hat sich der Bürge zu verpflichten, auf erste Anforderung an den AG zu zahlen.
Darauf stellte der AN eine Vertragserfüllungs-/Gewährleistungsbürgschaft eines Bürgen, der sich darin zur Zahlung auf erstes Anfordern verpflichtete. Der AG nahm später den Bürgen wegen Rückzahlungsansprüche in Anspruch. Dieser wandte ein, die Sicherungsabrede sei unwirksam.
Der BGH gibt hier dem Bürgen Recht, da die Sicherungsabrede unwirksam sei. Nach Ansicht des BGH ermögliche dieses Klauselwerk dem AG nach der sogenannten „kundenfeindlichsten Auslegung“, die Vertragserfüllungsbürgschaft auch noch längere Zeit nach der Abnahme zu behalten. Nach dieser Auslegung führe das Klauselwerk zu einer unangemessenen Benachteiligung des AN gemäß § 307 Abs. 1 BGB, weil er für einen Zeitraum über die Abnahme hinaus wegen Gewährleistungsansprüchen eine Sicherheit von 10 % der Auftrags- bzw. Abrechnungssumme leisten müsse. In Höhe von 5 % der Auftragssumme müsse der AN (gemäß Ziffer 6.1 BVB) eine Vertragserfüllungsbürgschaft stellen. In Höhe von weiteren 5 % der Auftrags- bzw. Abrechnungssumme erfolge ein Sicherheitseinbehalt (gemäß Ziffer 6.2 BVB). Zwar sei der AN gemäß Ziffer 6.2 BVB berechtigt, den Sicherheitseinbehalt mit einer Gewährleistungsbürgschaft abzulösen. Diese Möglichkeit habe aber bei der Bewertung, für welchen Zeitraum der AN eine Sicherheit von 10 % zu stellen habe, unberücksichtigt zu bleiben. Denn sie sei für den AN unangemessen belastend und deshalb unzumutbar. Er könne die Reduzierung der Sicherheit auf 5 % nur dadurch erreichen, dass er eine Bürgschaft auf erstes Anfordern stelle. Wenn danach die im Klauselwerk des AG vorgesehene Möglichkeit, die Vertragserfüllungsbürgschaft abzulösen, als dem AN unzumutbar außer Betracht zu bleiben habe, komme es darauf an, ob ihn die Belastung mit einer Sicherheit von 10 % für die Zeit bis zur vorbehaltlosen Annahme der Schlusszahlung unangemessen benachteilige. Das sei hier der Fall. Der BGH habe Gewährleistungsbürgschaften in Höhe von 5 % der Auftragssumme bisher nicht beanstandet. Er habe auch eine Vereinbarung als noch wirksam angesehen, die eine Sicherheit durch eine kombinierte Vertragserfüllungs- und Gewährleistungsbürgschaft von 6 % vorgesehen habe, mit der gleichzeitig die Überzahlungs- und Gewährleistungsansprüche abgesichert worden seien. Eine Sicherheit von insgesamt 10 % übersteige jedoch das unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen von AG und AN angemessene Maß. Weiter verweist der BGH auf die Vorgaben von § 14 Nr. 2 VOB/A (§ 9 Abs. 7 VOB/A 2009) und die Praxis der privaten Bauwirtschaft, wonach sich eine Gewährleistungsbürgschaft von höchstens 5 % der Auftrags- bzw. Abrechnungssumme durchgesetzt habe. Der BGH macht weiterhin klar, dass eine deutlich höhere Sicherung über einen Zeitraum weit über die Abnahme hinaus nicht mehr hinnehmbar sei.
Anmerkung
Die Entscheidung ist insoweit von Bedeutung, als sich der BGH erstmals explizit zur sog. „kundenfeindlichsten Auslegung“ von Allgemeinen Geschäftsbedingungen bekennt. Die Entscheidung reiht sich auch ein in die zunehmend kritischere Rechtsprechung des BGH zu Sicherungsabreden in AGB. Hatte der BGH am 9. Dezember 2010 (siehe baumarkt+bauwirtschaft, Ausgabe 3/2011, Seite 38) noch eine Vertragserfüllungsbürgschaft für unzulässig erklärt, wenn zusätzlich bestimmt ist, dass die Werklohnforderung des AN nur zu 90 % bezahlt wird, hat er nun dem überbordenden Sicherungsbedürfnis von Auftraggebern eine weitere Absage erteilt, wenn es um Gewährleistungsansprüche geht. Es bleibt abzuwarten, ob und wie der BGH diese – aus Sicht der bauausführenden Wirtschaft zu begrüßende – Rechtsprechung weiterführen wird.
Wegfall der Geschäftsgrundlage bei extrem überhöhtem Einheitspreis und extremer Mengenmehrung
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Beschluss vom 23. März 2011 – VII ZR 216/08 – (www.ibr-online.de) Folgendes entschieden:
1. Ein Rückgriff auf die gesetzliche Regelung zum „Wegfall der Geschäftsgrundlage“ kommt grundsätzlich nicht in Betracht, soweit eine vertragliche Regelung wie § 2 Nr. 3 VOB/B 2006 (§ 2 Abs. 3 VOB/B 2009) vorliegt.
2. Die Anwendung der gesetzlichen Regelungen zum Wegfall der Geschäftsgrundlage ist jedoch möglich, wenn die Parteien einer Einheitspreisvereinbarung ausnahmsweise eine bestimmte Menge zu Grunde gelegt haben und diese Menge überschritten wird.
Der Auftraggeber (AG) beauftragte den Auftragnehmer (AN) im Zusammenhang mit der Erneuerung einer Bundesautobahn mit Bauarbeiten. Dabei war auch eine Menge von 5 Tonnen zu entsorgender Abfälle (Abfall, Busch-, Hecken- und Schnittgut) ausgeschrieben. Der AN bot einen Einheitspreis von 2.413 Euro/t an und erhielt darauf den Zuschlag. Mit seinem Nachunternehmer vereinbarte er daraufhin für diese Leistung einen Einheitspreis von 62,10 Euro/t. Die tatsächliche Menge belief sich dann auf 610 t. Da der AN auch für die Mehrmengen auf seinem Einheitspreis bestand, kam es zur Kündigung des Vertrages. Im folgenden Rechtsstreit ging es primär um die Frage, ob der extrem überhöhte Einheitspreis auch für die extreme Mengenmehrung – unter Abzug von ersparten Aufwendungen – abzurechnen sei. Das zweitinstanzliche OLG hatte trotz der sog. „Mehrmengenvergütungsvorschrift“ des § 2 Nr. 3 VOB/B einen Wegfall der Geschäftsgrundlage angenommen. Die Geschäftsgrundlage hatte das Gericht bei einer Menge von ca. 15 t gesehen und für die darüber hinausgehende Menge – also 595 t – einen Einheitspreis von 275 Euro festgesetzt. Das OLG hatte die Revision nicht zugelassen. Dagegen richtete sich die Nichtzulassungsbeschwerde des AN.
Der BGH bestätigt die Entscheidung des OLG und weist die Nichtzulassungsbeschwerde zurück. Zwar enthalte § 2 Nr. 3 VOB/B 2006 nach der BGH-Rechtsprechung bei einem VOB-Vertrag eine abschließende Regelung für die Überschreitung der Massenansätze über 10 % hinaus. Diese Regelung sei nicht auf eine bestimmte prozentuale Überschreitung beschränkt. Damit sei die Frage der Preisgestaltung bei Mengenüberschreitung vertraglich geregelt, so dass die Rechtsfigur des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ bei Mengenüberschreitungen grundsätzlich keine Anwendung finde. Aus dieser Rechtsprechung ergebe sich jedoch nicht, dass eine Veränderung des Einheitspreises nichts stattfinden könne, wenn eine bestimmte Menge zur Geschäftsgrundlage des Vertrages erhoben worden sei und wegen der Überschreitung dieser Menge ein Wegfall der Geschäftsgrundlage vorliege. Es sei möglich, dass Geschäftsgrundlage einer Einheitspreisvereinbarung sei, eine bestimmte Menge nicht zu überschreiten. Allerdings sei dem Einheitspreis die Möglichkeit einer Mengenänderung immanent, so dass grundsätzlich kein Grund für die Annahme bestehe, eine bestimmte Menge sei zur Geschäftsgrundlage des Vertrages geworden. Bei einer außergewöhnlichen Preisbildung, wie sie hier vorliege, sei dies jedoch denkbar, weil die darin angelegte Störung des Äquivalenzverhältnisses von Leistung und Gegenleistung sich bei erheblichen Mengenänderungen in viel stärkerem Maße auswirke. Einen solchen Fall habe das Berufungsgericht hier zu Recht angenommen.
Anmerkung
Im vorliegenden Fall war der Einheitspreis des AN um das ca. 40-fache höher als der seines Nachunternehmers. Damit hätte man den Fall auch mit der Vermutung der Sittenwidrigkeit des Einheitspreises lösen können (siehe BGH vom 18.12.2008 – baumarkt+bauwirtschaft, Heft 3/2009, Seite 12). Letztere Entscheidung des BGH war aber bei Erlass des zugrundeliegenden OLG-Urteils am 10. 10. 2008 noch gar nicht bekannt. Durch den jetzigen Beschluss des BGH steht nun fest, dass mit der Rechtsfigur des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ – und zwar auch in VOB-Verträgen – ein weiteres Instrument zur Verfügung steht, um rechnerisch zwar richtige, unter dem Aspekt der Äquivalenz aber unerträgliche Abrechnungsergebnisse zu vermeiden. Dies ist deshalb interessant, weil es – wie im o. g. sogenannten Sittenwidrigkeitsurteil – auf den subjektiven Moment eines „sittlich verwerflichen Gewinnstrebens“ des Unternehmers bei der Rechtsfigur des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ gerade nicht ankommt. Von Bedeutung ist auch, dass das OLG wie der BGH bei der Prüfung der Geschäftsgrundlage auf die Einzelposition, nicht auf eine Gesamtbetrachtung des Vertrags abstellen.
Zulässigkeit von Nebenangeboten, wenn Preis einziges Zuschlagskriterium
Das OLG Schleswig hat mit Urteil vom 15. April 2011 – 1 Verg 10/10 – (www.ibr-online.de) Folgendes entschieden:
1. Hat der Auftraggeber in einem Vergabeverfahren den günstigsten Preis als einziges Zuschlagskriterium benannt und dennoch Nebenangebote zugelassen, müssen diese gewertet werden.
2. Weder aus den europäischen noch aus den nationalen Vergaberegeln ergibt sich eine Unzulässigkeit von Nebenangeboten in einem solchen Fall.
Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte Tiefbauleistungen beim Ausbau einer Bundesstraße ausgeschrieben. Einziges Zuschlagskriterium in den Verdingungsunterlagen war der günstigste Preis.
Nebenangebote hatte der AG dennoch zugelassen. Nach der Wertung gab der AG eines der Nebenangebote als Vergabevorschlag bekannt. Ein Mitbieter stellte dagegen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer und verwies dabei auf zwei Entscheidungen des OLG Düsseldorf, wonach Nebenangebote nicht gewertet werden dürften, wenn der AG den günstigsten Preis als Wertungskriterium mit 100% vorgegeben habe. Die erstinstanzliche Vergabekammer hatte mit diesem Hinweis darauf die Ausschreibung aufgehoben.
Das OLG Schleswig hebt die Entscheidung der Vergabekammer auf und verurteilt den AG, die Ausschreibung in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen und die Wertung zu wiederholen - allerdings nicht wegen einer evtl. Unzulässigkeit von Nebenangeboten, sondern wegen anderweitiger Unklarheiten in den Vergabeunterlagen und der Leistungsbeschreibung. Das OLG lässt aber keinen Zweifel daran, dass Nebenangebote auch dann zu werten seien, wenn der AG den günstigsten Preis als einziges Wertungskriterium vorgegeben habe. Ein Verstoß gegen Artikel 24 Abs. 1 der Vergabekoordinierungsrichtlinie (2004/ 18/EG vom 31. März 2004) liege nicht vor. Die Richtlinie sei direkt nicht anwendbar, weil sie in nationales Recht umgesetzt sei. Selbst aus der Richtlinie und deren Systematik ergebe sich an keiner Stelle ein Ausschluss von Varianten bei einer Vergabe nur nach dem günstigsten Preis. Dies gelte ebenso für das nationale Vergaberecht, insbesondere § 97 Abs. 5 GWB und § 25 Nr. 3 Abs. 3 Satz 2 VOB/A 2006 (§ 16 Abs. 6, Nr. 3, Satz 2 VOB/A 2009). Die Überlegung, mit der Zulassung von Nebenangeboten und der damit erforderlichen Gleichwertigkeitsprüfung werde die Ausschließlichkeit des Zuschlagskriteriums „günstigster Preis“ beseitigt, übersehe einen wichtigen systematischen Punkt: Die Gleichwertigkeitsprüfung erfolge bereits „auf einer der Zuschlagsentscheidung mit dem Kriterium „Preis“ weit vorgelagerten Wertungsstufe“. Es finde damit sozusagen vorab eine Sonderprüfung des Nebenangebots statt. Bestehe der Sondervorschlag diese Prüfung, konkurriere er bei der dann vorzunehmenden Wertung nur mehr anhand des Kriteriums „günstigster Preis“ mit den übrigen zu wertenden Haupt- und Nebenangeboten. Nachdem die Wertung von Nebenangeboten im vorliegenden Fall an sich keinen Vergabefehler darstelle, sei das Vergabeverfahren auch nicht aufzuheben.
Anmerkung
Die genannten Entscheidungen des OLG Düsseldorf, insbesondere vom 23. März 2010 (siehe baumarkt+bauwirtschaft, Heft 12/2010, Seite 48) haben in der Bauwirtschaft ganz erhebliche Unruhe erzeugt. Diese Entscheidungen werden vom OLG Schleswig grundsätzlich aus systematischen Gründen in Zweifel gezogen: Das Kriterium „günstigster Preis“ sei nur das Kriterium für die Wertung am Ende des Prüfungskanons. Bereits zuvor hätten Hauptangebote die Prüfungsstufen der Eignung des Bieters, Vollständigkeit etc. zu durchlaufen. Nebenangebote würden im Rahmen dieser Vorprüfung zudem hinsichtlich ihrer Gleichwertigkeit geprüft. Ende diese Prüfung mit einem positiven Votum, bestehe systematisch kein Grund mehr, dieses dann mit den Hauptangeboten gleichwertige Nebenangebot nicht durch den endgültigen „Filter günstigster Preis“ zu schicken. Etwas anderes ergebe sich zwingend weder aus dem Europarecht noch aus nationalem Vergaberecht.
Der BGH hat dem Sicherheitsbedürfnis der Auftraggeber eine Absage erteilt!