Hör-Ort im Erholungsraum
Spiel mit Wasser und seinen GeräuschenEin Wasserschleier als temporäre Installation bringt neue Qualität in den suburbanen Raum. Die heutige Zeit braucht wieder solche mobilen Versatzstücke, die Identität stiften und den Geist des Ortes zum Ausdruck bringen.
Wasserschleier auf der Vorstadtbrücke in Dietikon, Kirchstraße. Eine Klang-installation nach der Idee von Andres Bosshard, realisiert im Mai 2022 durch Metallatelier GmbH.
© Metallatelier
Das Projekt „Ruheorte.Hörorte“ ist Teil der Regionalen Projektschau Limmattal (Regionale 2025) und wird als Modellvorhaben für „Nachhaltige Raumentwicklung 2020-2024“ von der Schweizer Bundesregierung unterstützt. Das Vorhaben soll zukunftsweisend für das Limmattal sein, denn das Tal im Westen der Metropolregion Zürich „leidet“ unter einem rasanten Wachstum. Ziel des Projekts ist, die Wertschätzung der landschaftlichen und akustischen Qualität des Limmattals zu fördern, mit Fokus auf den Erholungsraum entlang des Flusses. Außergewöhnliche Objekte sind in diesem Rahmen entstanden. Die Erfahrungen sind ermutigend, sie könnten übertragbar sein auf andere suburbane Räume oder Agglomerationen.
Nach Ideen des Künstlers Andres Bosshard wurden im Mai 2022 Klangerlebnisse der besonderen Art installiert, zum Beispiel auf der Vorstadtbrücke in Dietikon. Hier hat Bosshard in Zusammenarbeit mit dem Metallatelier ein temporäres Objekt, einen vertikalen Wasserschleier entworfen, der ganz bewusst mitten auf einer Brücke steht, um eine überraschende Begegnung mit diesem Ort anzuregen. „Der Eingang zu einem römischen Gutshof war an dieser Stelle“, weiß der historisch sachkundige Künstler. „Zudem hatten römische Siedlungen in dieser Gegend als Identifikationsorte ihre Amphitheater, die in standardisierten Größen bestellt und errichtet wurden.“
Alles fließt
Gerade die heutige Zeit braucht wieder solche mobilen Versatzstücke, die den Geist des Ortes zum Ausdruck bringen. Denn womit identifizieren sich aktuell die Bewohner im Limmattal? Wo alles fließt, in Bewegung ist und rauscht – der Straßen- und Schienenverkehr, der Luftverkehr von und nach Zürich, und selbst das Wasser der Limmat und der Reppisch. Jedenfalls noch dort hörbar, wo es nicht kanalisiert wurde. Zürich hat einen seiner Identifikationsorte beim Hafen Enge auf dem Zürichsee, das Aquaretum. Auch Genf hat seine Fontäne, bringt das Wasser sogar noch höher hinaus. Vielleicht gelingt Identifikation gerade so: Das Wasser nach oben pumpen, wie derzeit ebenfalls aus der Reppisch auf die Vorstadtbrücke in Dietikon.
Der rechteckige Rahmen aus Metall spannt auf sechs Metern Länge ein knapp drei Meter hohes Edelstahlnetz, ein so genanntes Ringgeflecht, das von oben mit dem aus der Reppisch stammenden Wasser berieselt wird.
© Metallatelier
Was auf den ersten Blick absurd wirkt, hat System: Unten fließt die Reppisch, die etwas weiter entfernt in die Limmat mündet. Doch oben auf der Fußgänger- und Fahrradbrücke rauscht das Wasser in Augenhöhe. Die schlanke Konstruktion des Wasserschleier-Objekts teilt die Brücke der Länge nach in zwei Hälften. Der rechteckige Rahmen aus Metall spannt auf sechs Metern Länge ein knapp drei Meter hohes Edelstahlnetz, das von oben mit dem aus der Reppisch stammenden Wasser berieselt wird. So entsteht die lebhafte und hörbare Oberfläche des Schleiers. Passanten wird die Durchsicht zur Seite verhüllt. Im Gegenlicht glänzen, flimmern und tanzen die Wellen nach unten. Ihre Vitalität wird noch gesteigert durch eine elektronische Steuerung, die die Wassermenge wie zufällig modifiziert. Auch der Wind kann Einfluss nehmen auf das Wellenbild der rieselnden Wasserfläche, das zusätzlich je nach Lichteinfall variiert.
Klang und Spiel mit Wassergeräuschen
Das eigentliche Thema dieses Hörorts ist jedoch nicht die optische Wirkung, sondern der Klang. Laut David Fuchs, dem Hersteller des Objekts, wurde der Wasserschleier wie ein Instrument gestimmt. Das Alphamesh, eine spezielle Art von Edelstahlgeflecht, sowie die Auslassdüsen am oberen Ende des Objekts und die Wassermenge spielen dabei eine Rolle. Zur überraschenden Begegnung der Passanten mit dem Wasser kann beitragen, dass die elektronische Steuerung automatisch den Wasserfluss ändert oder stoppt. Alternativ können sowohl Bosshard wie auch Fuchs und sein Team vom Metallatelier aus der Ferne derartige Änderungen via Internetverbindung spontan auslösen, vielleicht ein Spiel mit den Passanten beginnen – ohne dass die Akteure in der Ferne und die Betrachter vor Ort sich sehen müssen. Darin besteht ein Unterschied zur Darbietung im römischen Theater.
Zum Spiel gehören noch Taster, die denen an einer Fußgänger-Ampel gleichen, und an jeder der beiden Stirnseiten der Metallkonstruktion montiert wurden. Sie geben den Passanten die Möglichkeit, ihrerseits Akteure zu werden und den Wasserfluss zu stoppen, für eine kurze Zeit den Schleier zu „lüften“, entlangzugehen, ohne vom Seitenwind mit Schleierwasser nass gespritzt zu werden. Und es ist in solchen Augenblicken möglich, durch das Metallgeflecht zu schauen, auf die andere Hälfte der geteilten Brücke. Kinder, die darin Spielpotential entdecken, haben ihren Spaß – und entdecken vielleicht, dass durch den fehlenden Schleier die Geräusche von der anderen Seite für kurze Zeit wahrnehmbar sind, dass man sich jetzt auch durch das Metallgeflecht hindurch verständigen kann. Geht der Wasserschleier nach einiger Zeit automatisch wieder in Betrieb, ändert sich das. Die Akteure können trotzdem in den Wasserfilm greifen, ihn manipulieren, etwas nach drüben rufen.
Mit einem Taster, der dem an einer Fußgängerampel gleicht, können Passanten den Wasserfluss stoppen, für eine kurze Zeit den Schleier „lüften“.
© Metallatelier
Vom Wert des Aufhörens
Wer so oder ähnlich stehen bleibt, sich am Wasserschleier „zu schaffen macht“, nimmt auch wahr, dass es unter dem Brückenbelag eine zweite Art von Plätschern gibt, jedenfalls so lange der Wasserfluss des Schleiers in Betrieb ist. Es stammt von den 400 Litern pro Minute, die unten am Schleiergeflecht abtropfen, durch den Belag aus Gitterrosten zwei Meter tiefer in die Reppisch fallen. Da ist aber noch etwas drittes, hörbar vor allem, wenn nach Tasterdruck der Schleier verschwindet, das Tröpfeln allmählich aufhört: Das Fließgeräusch der Reppisch – eigentlich immer da, jedoch kaum bemerkt. Das Aufhören des einen macht das Hinhören auf das andere offenbar erst möglich.
Wird die Brücke derart überquert und der Hörort des Klangschleiers aktiv passiert, hat der Lerneffekt des bewussten Hörens und sensibel Werdens für die akustische Qualität dieses Objekts stattgefunden. Es geht den Projektbeteiligten (der Regionale 2025, der Stadt Dietikon, anderen Gemeinden im Limmattal sowie den Kantonen Zürich und Aargau) aber nicht nur um Achtsamkeit. Auch Agieren, in Beziehung treten, sich einmischen, den Standpunkt ändern – sowohl physisch, wie von der inneren Einstellung her. So gesehen kann, wer will, in den Wasserschleier handelnd „eingreifen“. Wogegen man vor den großen Fontänen von Genf und Zürich nur passiv „ergriffen“ verharren kann.
Montage der temporären Konstruktion auf der Brücke über die Reppisch. Pro Minute werden dem Gewässer kurzzeitig 400 Liter entzogen, die vom Wasserschleier zurück in den Flusslauf fallen.
© Metallatelier
Schalldämmung und Klanggärtner
Fragen, die sich bei solch pathetischer Betrachtung aufdrängen: Ob die Bevölkerung im Limmattal mit einem auf diese Weise Identität stiftenden Hör- und Ruheort allmählich in „Einklang“ kommt? Ob Spaziergänge dorthin unternommen werden und Besuchern stolz dieser Wasserschleier gezeigt wird? Ob das Objekt über die Stadt Dietikon hinaus eine Resonanz in der öffentlichen Wahrnehmung erzeugt? In Fachkreisen auf nationaler Ebene ist das Interesse jedenfalls vorhanden. Beat Hohmann, der in der Fachgruppe Klangraumgestaltung im Cercle Bruit Schweiz mitwirkt, nennt den Wasserschleier „attraktive Verwirklichung einer transparenten Schalldämmung, deren schönes Eigengeräusch gleichzeitig Fremdlärm maskieren kann und die zum eigenen Ein-Greifen verlockt“. Er hat den Wasserschleier im Spätsommer 2022 besucht und Messungen vorgenommen, veröffentlicht in der Publikation „Mit Brunnen, Bach und Fluss gegen Lärm von Auto, Tram und Bus – Wann und wie können Wassergeräusche den Verkehrslärm erträglicher und den Aufenthalt angenehmer machen?“
Screenshot der automatisierten Steuerung für die beiden Pumpen des Objekts. Der Klang des Wasserschleiers wird nach verschiedenen Kriterien modifiziert.
© Metallatelier
Etwa zeitgleich wurden für die Studie „Hören und Stören? Akustische und visuelle Einflüsse auf die wahrgenommene Erholung in peri-urbanen Grünräumen“ an 10 Orten im Schweizer Mittelland Befragungen durchgeführt, unter anderem am Wasserschleier auf der Vorstadtbrücke. Herausgeberin ist die WSL, die Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, und das Projekt wurde vom BAFU, dem Bundesamt für Umwelt, finanziert. Man darf auf die Resultate gespannt sein. Andres Bosshard, der sich selbst gerne als Klang-Gärtner bezeichnet, ist bereit für den Fall, dass auch andernorts Wassergeräusche gebraucht werden. Denn schon seit zwei Jahrzehnten sorgt er mit seinen Vorlesungen an der Zürcher Hochschule der Künste und der Musikhochschule Luzern für die Ausbildung des Nachwuchses seiner Zunft. Und das könnte sich für die Bevölkerung auszahlen. Denn wenn das Beispiel Dietikon Schule macht, werden in der ganzen Schweiz und weit darüber hinaus solche Klang-Gärtner gefragt sein.
Klaus W. König, Überlingen
Synergie aus Kunst und Technik
Die Geschichte der Zusammenarbeit zwischen Andres Bosshard, Klangkünstler, und David Fuchs, Gründer der Metallatelier GmbH, reicht bis in das Jahr 1999 zurück. Themen waren bis heute Wasser, Klang, Wellenbilder, Licht und Computersteuerungen im künstlerischen Kontext. Resultate sind temporäre und permanente Installationen/Interventionen im öffentlichen Raum. Wer sich in Zürich auskennt, dürfte die klingende Kanalisation am Heerenschürli (www.metallatelier.de/klangfeld) oder den Klangbrunnen am Schulhaus Im Gut (www.metallatelier.de/klangbrunnen) kennen. Aufsehen erregt seit 2019 das Aquaretum, Wahrzeichen des Zürichsees und weithin sichtbares Wasserspiel beim Hafen Enge, bestehend aus 12 modulierten Fontänen, die durch seismische Signale des Schweizerischen Erdbebendienstes gesteuert werden (www.metallatelier.de/aquaretum).