Am „steinernen Märchen“ darf nicht gerüttelt werden
Flüssigbodentechnologie – Schonendes Bauverfahren ohne Rüttelplatte
Unmittelbar vor dem Rathausportal der Hansestadt Lübeck in der Breite Straße werden neue Schmutz- und Regenwasserleitungen sowie Hausanschlüsse geschaffen. Diese Umstellung der derzeitigen Mischkanalisation auf Trennkanalisation ist eine vorbereitende Baumaßnahme zur Umsetzung des Projektes „Mitten in Lübeck“, in dem auch die Neugestaltung der Breite Straße mit inbegriffen ist.
Mit dem mittelalterlichen Stadtkern der Hansestadt Lübeck wurde 1987 erstmals in Nordeuropa eine ganze Altstadt von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt. Ausschlaggebend waren dabei zum einen die markante Stadtsilhouette und die geschlossen erhaltene vorindustrielle Bausubstanz, zum anderen auch der für die archäologische Erforschung des mittelalterlichen Städtewesens außerordentlich ergiebige Untergrund.
Der von der UNESCO geschützte Bereich bezieht die wichtigsten Bauwerke Lübecks ein: den Baukomplex des Rathauses, das Burgkloster, den Koberg – ein vollständig erhaltenes Viertel des späten 13. Jh. – mit Jakobikirche, Heiligengeist-Spital und den Baublöcken zwischen Glockengießer- und Aegidienstraße, das Viertel der Patrizierhäuser des 15. und 16. Jh. zwischen Petrikirche und Dom, das Holstentor und die Salzspeicher am linken Traveufer. Das Rathaus der Hansestadt Lübeck ist für die Touristen „die“ Sehenswürdigkeit schlechthin: Von den Lübeckern im Jahre 1230 begonnen und in den folgenden Jahrhunderten immer wieder verändert und erweitert – gilt es heute trotz seiner sehr verschiedenartigen Teile als eines der schönsten und ältesten deutschen Rathäuser. Ein historischer Reisebericht nannte das Lübecker Rathaus einmal ein „steinernes Märchen“. Doch wer in diesen Tagen das Areal bewundern möchte, der stößt auf eine nicht zu übersehende Baustelle.
Die Baustelle am Rathaus in der Breite Straße fällt ins Auge. Hier ist unmittelbar vor dem Rathausportal die Breite Straße aufgerissen. Es werden neue Schmutz- und Regenwasserleitungen sowie Hausanschlüsse geschaffen. Diese Umstellung der derzeitigen Mischkanalisation auf Trennkanalisation ist eine vorbereitende Baumaßnahme zur Umsetzung des Projektes „Mitten in Lübeck“, in dem auch die Neugestaltung der Breite Straße mit inbegriffen ist. Der Umbau der zentralen Innenstadtachse wird gefördert durch die Possehl-Stiftung und aus dem Zukunftsprogramm Wirtschaft mit Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE).
Jede Bautätigkeit ist im Grundsatz mit Erschütterungen und Geräuschentwicklung verbunden, durch welche das Umfeld einer Baumaßnahme mehr oder weniger stark beeinträchtigt werden kann. Bei vielen Verfahren des Tiefbaus wird gezielt dynamisch auf den Baugrund eingewirkt, beispielsweise um Bodenwiderstände gegen das Eindringen von Konstruktionselementen wie Pfähle oder Spundbohlen zu überwinden oder um vor allem nichtbindige Böden effektiv zu verdichten. Insbesondere bei diesen Bauverfahren werden Erschütterungen durch den Baugrund auf benachbarte bauliche Anlagen übertragen und können dort Schäden verursachen. Solche Schäden können von konstruktiv unschädlichen »architektonischen« Rissen bis zu erheblichen Rissbildungen mit Beeinträchtigung der Standsicherheit eines Bauteils reichen. Beim UNESCO Weltkulturerbe in Lübeck war daher der Einsatz von Rüttelplatten einfach undenkbar. „Der neuralgische Punkt ist die Vorhalle des Rathausportals!“ Mit dieser Feststellung eröffnet Anfang Juni 2011 Stefan Bröcker von den Lübecker Entsorgungsbetrieben eine Besprechung im Baucontainer der Firma Grothe Bau, an der neben Joachim Grothe von der gleichnamigen Lübecker Baufirma auch Andreas Bechert teilnahm, der als Pressereferent der RAL Gütegemeinschaft Flüssigboden e.V. eigens zu Filmaufnahmen angereist war.
Wie Stefan Bröcker berichtete, war man im Rahmen der beschränkten Ausschreibung besonders auf alle jene Bauunternehmen zugegangen, die Erfahrungen mit dem bei dieser Baumaßnahme ausgeschriebenen schonenden Bauverfahren vorweisen konnten und bereits als besonders qualifizierte Unternehmen für die Entsorgungsbetriebe Lübeck Aufträge dieser Art erfolgreich abgewickelt hatten. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Zum einen wollte man allen Anliegern so wenig wie nur möglich an Baustellenlärm und Staub zumuten. Zum anderen galt es den historischen Bestand der Gebäude zu schützen und Erschütterungen von den Gebäuden fernzuhalten. So sind zum Beispiel die Säulen der Vorhalle am Rathausportal nicht tief genug gegründet, um einer längeren Rüttelplattenattacke am davor geöffneten Rohrgraben standzuhalten. Und ein dritter Grund für ein schonendes Bauverfahren ist in der engen Straßenbreite zu sehen, denn der Strom der Passanten und Touristen sollte hier nicht ins Stocken geraten. Den Zuschlag für die Bauausführung erhielt ein Unternehmen vor Ort. Die Firma Grothe Bau GmbH begann im Februar 2011 mit der Baustelleneinrichtung und traf alle Vorbereitungen, damit die Baumaßnahme zügig durchgeführt werden können. Der Bereich Archäologie und Denkmalpflege begleitet die gesamte Baumaßnahme.
Wie Schachtmeister Uwe Karow berichtete, hat es die Baustelle in sich. Nicht nur dass der alte Mischwasserkanal entfernt, die neuen getrennten Leitungen eingebaut und viele Hausanschlüsse erneuert oder neu gebaut werden müssen. Hinzu kommt die hohe Dichte von Versorgungsleitungen im Untergrund der Straße. Gasleitungen, alte Wasserleitungen, Strom und Telekom tummeln sich hier kreuz und quer und in allen möglichen Richtungen. „Stellenweise“, so stellte Uwe Karow weiter fest, „mussten wir die Hausanschlüsse im Stollenbau ausführen“. Nur so war das unterirdische Leitungswirrwarr zu überwinden. Firmenchef Joachim Grothe meinte schmunzelnd: „Die Baumaßnahme ist so spektakulär, dass ich mich hier als Chef öfters sehen lassen musste, als es sonst wohl üblich ist“. Das Geheimnis in Sachen „schonendes Bauverfahren“ liegt besonders in einer neuartigen Technologie begründet: Flüssigboden. Dahinter verbirgt sich die zukunftsweisende Erfindung aus Leipzig, mit der in Lübeck schon so manche komplizierte Baustelle gemeistert wurde. Hinter dem Flüssigbodenverfahren verbirgt sich eine Technologie, wobei der Baustellenaushub für ein paar Stunden in flüssige Form gebracht wird. Dies geschieht unter Zugabe von Wasser und mineralischen Trockenkomponenten, die in der Lage sind, das für die Herstellung der zeitweisen Fließfähigkeit zugegebene Wasser, schrittweise und dauerhaft zu binden. Diese Mischung wird dann in den offenen Rohrgraben eingebracht und ist binnen weniger Stunden wieder so fest, wie der Ausgangsboden vor dem Öffnen des Grabens. Dennoch ist das Ganze dann wieder eine lösbare Verbindung mit einem großen Vorteil: Es gibt keinerlei Setzungserscheinungen!
RAL-Gütebestimmungen werden eingehalten
Das Zauberwort auf der Lübecker Baustelle lautet also Flüssigboden. Das klingt zunächst einfach, doch dem ist nicht so. Bevor die Firma Grothe dieses Verfahren zur Anwendung bringen konnte, mussten mehrere Mitarbeiter der Baufirma eine Weiterbildung an der Hochschule in Regensburg vollziehen. Dort wurden sie zum RAL geprüften Gütesicherungsbeauftragten für Flüssigboden ausgebildet, zertifiziert und so in die Lage versetzt, Flüssigboden als bodenartiges Verfüllmaterial herzustellen. Denn einer der Vorteile dieses Verfahrens besteht darin, dass zur Herstellung des Flüssigbodens immer der Aushub vor Ort zum Einsatz kommt. Dass spart nicht nur Zeit und lange Wege sondern auch die sonst anfallenden Deponiekosten. Die RAL Gütegemeinschaft Flüssigboden e.V. bürgt für die zugesagte Qualität. Denn Flüssigboden ist nicht immer Flüssigboden im Sinne der RAL Gütebestimmung. Viele Firmen versuchen sich darin, doch nur zertifizierte Fachbetriebe bieten auch die Garantie, Flüssigboden im Sinne der hochwertigen Wiederherstellung von Aufgrabungen im ungestörten Zustand vor der Aufgrabung herzustellen und einzubauen. Das RAL Gütezeichen 507 steht für diese Fähigkeiten der Besitzer. Zu solch einer Ausführungsqualität gehört in der Regel auch eine ingenieurtechnische Fachplanung, auf die RAL zertifizierte Baufirmen in vielen Fällen verweisen können und die die Besonderheiten der mit Flüssigboden möglichen Technologien gezielt berücksichtigt und für die ausführenden Firmen verständlich und sicher macht.
Daher ist der Einsatz der alt bekannten Rüttelplatte im Zuge dieser Bahn brechenden Technologie nicht nötig. Kein Lärm, keine Erschütterungen, kaum Staub – dass zeichnet das schonende Bauverfahren, welches die Firma Grothe anwendet, aus. Und noch ein weiterer Vorteil beschleunigt die Kanalbauarbeiten: Da der Kanalgraben in einem Zuge bis zum Rand verfüllt wird, gehen die Arbeiten zügiger als in der bisherigen Kanalbauweise voran. In wenigen Wochen wird der vorbereitende Kanal fertig gestellt sein. Dann beginnen die eigentlichen Arbeiten am Projekt „Mitten in Lübeck“ – die Voraussetzungen hierfür sind dann geschaffen.n