Erweiterte Beurteilungsmodelle für die Strategieoptimierung und den Werterhalt beim ABK
Seit Einführung der aktuellen DIN EN 752 [1], des DWA-M 143-14 [2] und des DWA-M 149-2 [3] haben sich die Anforderungen an das Unterhaltsmanagement von Entwässerungssystemen erheblich verschärft. So fordert sowohl die DIN EN 752 als auch das DWA-M 143-14 eine diesbezügliche strategische und/oder betriebliche Planung mit den Zielstellungen der Vermeidung von Vermögensverzehr durch Erhalt des Substanzwertes sowie der Ermittlung des langfristigen Investitionsbedarfs zum Erreichen definierter Ziele.
Dr.-Ing. Robert Stein, Prof. Dr.-Ing. Stein & Partner GmbH;
S & P Consult GmbH, Bochum
Prof. Dr. M. Stachowske, IWEB GmbH, Lehrbeauftragter für BWL
an der RWTH-Aachen
Einen ganz besonderen Stellenwert nehmen in diesem Zusammenhang die Bewertung der baulichen Substanz und die zu erwartende Restnutzungsdauer von Haltungen und Schächten (nachfolgend Objekte genannt) ein. Begründet wird dies im DWA-M 143-14 damit, dass die historisch durch Ausbauschübe geprägte Netzstruktur mit Perioden unterschiedlicher Verlege- und Materialqualitäten in der Zukunft starke Schwankungen des erforderlichen Reinvestitionsbedarfs (bzw. Sanierungsbedarfs) erwarten lässt, wenn diese nicht durch eine vorausschauende Planung verstetigt werden. Daher empfiehlt das DWA-M 143-14 „die langfristige Substanzwertentwicklung eines Netzes, basierend auf seinem heutigen bzw. geplanten Investitionsverhalten, zu prüfen, um Defizite frühzeitig zu erkennen und ggf. frühzeitig Korrekturen durchzuführen“. Durch eine solche Herangehensweise kann der Netzbetreiber die notwendigen Nachweise erbringen, dass er im langfristigen Kontext (Generationenvertrag) die ihm obliegenden Aufgaben erfüllt.
Die Basis für die Entwicklung eines Unterhaltsmanagements bilden Beurteilungsmodelle. Unter einem Beurteilungsmodell versteht das DWA-M 149-3 [4] ein Vorgehensschema zur Erzeugung einer Sanierungsbedarfsliste (Bedarfsliste) für ein Entwässerungssystem auf Grundlage der Daten der baulichen / betrieblichen Zustandsuntersuchung und etwaiger Randbedingungen. Alle Modelle dienen als Hilfsmittel für eine ingenieurmäßige Beurteilung des baulichen und betrieblichen Zustandes und basieren auf den Arbeitsschritten Zustandsklassifizierung, ‑bewertung und ‑beurteilung.
Unter der Voraussetzung, dass „die optische Inspektion und die Zustandsbeurteilung in einem angemessenen, möglichst engen zeitlichen Zusammenhang stehen“, ist die nach DWA-M 149-3 [4] und Isybau [5] ermittelte Bedarfsliste hinreichend, um kurzfristige Sanierungsentscheidungen und insbesondere Sofortmaßnahmen abzuleiten.
Für die Entwicklung effizienter mittel- und langfristiger Sanierungs- und Investitionsstrategien für Entwässerungssysteme genügt diese Art der Zustandsklassifizierung nicht, da sie zum einen die zukünftig eintretenden Netzzustands- und -substanzentwicklungen nicht abbildet. Zum anderen wird die Schadensklasse im Wesentlichen ausschließlich aufgrund von Schadenart und ‑ausmaß festgelegt, d. h. sie beschreibt nur einen lokal begrenzten Objektzustand. Ein weiteres Defizit der Standardbeurteilungsmodelle ergibt sich durch die Verwendung diskreter (starrer) Klassen, welche zu grob, zu undifferenziert und mit Unschärfen behaftet sind. Darüber hinaus finden wichtige systemische und/oder lokale Randbedingungen sowie die bauliche Substanz eines Objektes als Kriterium für den Abnutzungsvorrat und für die Abschätzung der Restnutzungsdauer keine Berücksichtigung.
In Folge führt dies zwangsläufig zu einer Fehleinschätzung des Sanierungs- und Finanzbedarfs.
1 Erweiterte Beurteilungsmodelle
Die oben angeführten Nachteile der Standardbeurteilungsmodelle zu eliminieren und damit eine Grundlage für eine mittel- bis langfristige Sanierungsplanung zu schaffen, ist die Zielstellung der Erweiterten Beurteilungsmodelle, z. B. STATUSKanal [6], Bietigheimer Modell (DynaStrat) [7], GOMPSOFT [8]. Sie basieren auf der Kenntnis der Zusammenhänge zwischen Gesamtschadensbild und der daraus abzuleitenden Versagenswahrscheinlichkeit des Objektes (Haltung, Schacht) und der aus der Beurteilung aller Objekte ableitbaren aktuellen Zuverlässigkeit des gesamten Entwässerungssystems. Darüber hinaus ermöglichen sie durch entsprechende statistische Alterungsmodelle die Prognose der zukünftigen baulichen Zustands- und Substanzentwicklung sowohl der Objekte als auch in der Folge die wahrscheinliche zukünftige Netzentwicklung und damit die Beurteilung der zukünftigen Zuverlässigkeit von Entwässerungssystemen. Nachfolgend werden die Komponenten eines Alterungsmodells beispielhaft am Strategieentwicklungs- und -analysemodell STATUSKanal [6] vorgestellt, welches in einer Vielzahl von Entwässerungsnetzen der Bundesrepublik Deutschland, darunter die Städte Bremen, Düsseldorf und Stuttgart, sehr erfolgreich eingesetzt wurde.
1.1 Abgrenzung zwischen Zustands- und Substanzklasse
Da bei den Standardbeurteilungsmodellen nach DWA-M 149-3 [4] und Isybau [5] die Zustandsklasse einer Haltung, als Maßstab für die Sanierungspriorität, im Wesentlichen durch die Schadensklasse des schwersten Einzelschadens bestimmt wird, kann aus dieser Klassifizierung nicht abgeleitet werden, wie groß das Schadensausmaß und die Schadensstreuung innerhalb der Haltung und daraus resultierend der verbleibende Abnutzungsvorrat der gesamten Haltung ist [9].
Um eine möglichst realistische Bewertung des baulichen Haltungszustandes und des noch vorhandenen Abnutzungsvorrates der Haltung als Grundlage für ein effizientes Unterhaltsmanagement zu erhalten, ist ein erweitertes Beurteilungsmodell erforderlich, welches neben dem Haltungszustand (Zustandsklasse) als Maß der gegenwärtigen Funktionserfüllung (Sanierungspriorität) auch die Haltungssubstanz (Substanzklasse) als Maß der noch innewohnenden Funktionserfüllung (Abnutzungsvorrat) berücksichtigt [10]. Die Zustandsklasse einer Haltung wird ähnlich wie bei den Standardbeurteilungsmodellen, durch den größten Einzelschaden innerhalb der Haltung bestimmt. Die Ermittlung der Substanz(klasse) sollte die Schadensschwere, das Schadensausmaß und die Schadensverteilung innerhalb einer Haltung berücksichtigen (Bild 1).
Damit gibt die Substanzklasse Aufschluss über die noch erreichbare technische Restnutzungsdauer und die Art und den Umfang einer erforderlichen Sanierung, d. h. wie ökonomisch sinnvoll eine Reparatur, Renovierung oder Erneuerung im Hinblick auf die noch zu erwartende Restnutzungsdauer des untersuchten Objektes ist. Die Substanzklasse liefert damit den wesentlichen Parameter für die Erfassung des noch vorhandenen Vermögenswertes und ist zur Beurteilung des Alterungsverhaltens unverzichtbar [10].
1.2 Stufenlose Schadensklassifizierung unter
Einbeziehung statisch relevanter Randbedingungen
Wie eingangs erläutert, reicht für mittel- und langfristige Sanierungsentscheidungen die Qualität der Schadensklassifizierung auf Basis der Standardbeurteilungsmodelle nicht aus. So ist es bei diesen z. B. völlig unerheblich, welche Nennweite oder welche statische Beanspruchung (z. B. Tiefenlage) die betrachtete Haltung aufweist. Die Schadensklasse wird in der Regel ausschließlich aufgrund von Schadensart und –ausmaß festgelegt. Einzig der Rohrwerkstoff sowie Informationen zur Undichtigkeit werden unter Umständen bei der Schadensklassifizierung berücksichtigt. Eine Schadensklassifizierung, die vornehmlich nur die Schadenscharakteristika (Schadensart und -ausmaß) berücksichtigt, ist aber zu unscharf, um ausreichend genau Aussagen über die Versagenswahrscheinlichkeit eines Netzobjektes zu liefern. Daher ist eine ingenieurmäßige Herangehensweise gefordert, welche die Randbedingungen für eine statisch angenäherte Ermittlung der Resttragfähigkeit vornehmlich statisch geschädigter Rohre nutzt. Das geschädigte statische System (Rohr + Boden + Schaden) ist unter Variation mindestens von Rohrnennweite, Rohrwerkstoff, Wanddicke und Überdeckungshöhe zu betrachten. Die Schadensklasse ist somit unter Berücksichtigung des Einflusses des Schadensausmaßes und der Randbedingungen auf die Versagenswahrscheinlichkeit des statischen Systems zu bestimmen. Sie sollte auf der Grundlage der Einhaltung der Sicherheitsbeiwerte nach den geltenden Regeln der Technik, z. B. bei der Rohrstatik ATV-DVWK-A 127 [12] und der probabilistische Sicherheitstheorie basieren [13], [14], [15], [10], [16].
In Bild 2 ist beispielhaft ein Parameterfeld für eine ingenieurmäßige Berücksichtigung der Randbedingung „Überdeckungshöhe“ für ein Betonrohr vom Typ KW DN 400 mit dem Schaden „Längsriss“ dargestellt. Das Bild veranschaulicht die Standsicherheit, charakterisiert durch den Sicherheitsbeiwert y, in Abhängigkeit von Überdeckungshöhe und Schadensausmaß (Quantifizierung der Rissbreite). Diese Parameterfelder sind in STATUSKanal [6] für alle relevanten Rohrtypen und Nennweiten hinterlegt, so dass sich für diese Einzelschäden eine präzisere, am Standsicherheitsbeiwert orientierte Schadensklassifizierung ergibt. Die bei den Standardbeurteilungsmodellen verwendeten diskreten Zustandsklassen (von 1 bis 5, bzw. 0 bis 5) reichen weder aus, um den Informationsgewinn aus der vorgestellten ingenieurmäßige Herangehensweise bei der Schadensklassifizierung zu verarbeiten, noch um daraus valide Substanzklassen ermitteln zu können. Hierfür ist eine Verstetigung von Schadens-, Zustands- und Substanzklassen z. B. mit Hilfe eines nachvollziehbaren mathematischen Modells z. B. auf Basis der Fuzzy-Theorie (Fuzzy-Logik) erforderlich.
Einen Überblick über die Vorgehensweise bei der stufenlosen Klassifizierung von Einzelschäden mit Fuzzy-Logik vermittelt Bild 3. Sie orientiert sich beispielhaft an den in den Arbeitshilfen Abwasser [5] (Stand 2011) empfohlenen Schadensklassengrenzen der Einzelschäden, bildet diese aber unscharf, d. h. fuzzyfiziert ab. Ähnliche Ansätze sind für Entwässerungssysteme beispielsweise von Kleiner, Rajani, Sadiq [17], [18] angewandt worden.
Der Vorteil der Fuzzy-Logik gegenüber der klassischen Mathematik, in der ein Element in einer vorgegebenen Grundmenge entweder enthalten oder nicht enthalten ist (ja/nein, wahr/falsch etc.), besteht darin, dass ein Element in einer unscharfen Menge (engl.: „fuzzyset“) auch „ein wenig“ oder „ein bisschen“ enthalten sein kann. Der Grad an Zugehörigkeit wird dabei durch eine Zugehörigkeitsfunktion beschrieben.
Zur Verstetigung der rechteckförmigen Schadensklassenverläufe der Standardbeurteilungsmodelle werden in STATUSKanal [6] als Zugehörigkeitsfunktionen sogenannte „Spline-Funktionen“ verwendet, da sie für den stufenlosen Klassenwechsel besonders geeignet sind. Eine Gegenüberstellung der starren Schadensklassen nach Isybau mit den mit Hilfe der Spline-Funktion abgebildeten stufenlosen Schadensklassen enthält beispielhaft für den Schaden „Verschobene Verbindung (BAJ A)“ Bild 4.
In der oberen Darstellung stellt die Abszissenachse die Skala des Schadensausmaßes und die Ordinatenachse den Zugehörigkeitsgrad dar, wobei innerhalb der Klassengrenzen jeweils eine Gleichverteilung mit der Zugehörigkeit 1 angenommen wird (Rechteckfunktion). Bis zum Erreichen des Grenzwertes bleibt der Schaden voll der jeweiligen Klasse zugehörig. Wird dieser überschritten, erfolgt ein abrupter Klassenwechsel um genau eine Klasse. Durch die Verwendung der Fuzzy-Logik (untere Darstellung) wird die Zugehörigkeit zu den Schadensklassen durch stufenlose Klassenübergänge gestaltet. Nur im Scheitel der jeweiligen Spline-Funktion gehört ein Schaden ausschließlich zu dieser Schadensklasse.
Da die starren, ganzzahligen Klassen durch entsprechend stufenlose Klassen aufgelöst werden, lassen sich unplausible Klassenwechsel vermeiden, ohne das bisher praktizierte Konzept der fünf Klassen als solches aufzugeben. Der Vorteil der stufenlosen Klassenübergänge wird unter anderem am Beispiel von Bedarfslisten deutlich, die je nach Netzlänge tausende Haltungen enthalten können. Gegenüber Bewertungssystemen mit starren Klassen ermöglicht der Einsatz der Fuzzy-Logik eine wesentlich stärkere Differenzierung innerhalb der Bedarfsliste. Projektbeispiele zeigen, dass die Anzahl unterschiedlicher Rangplätze innerhalb der Bedarfsliste zum Teil verzehnfacht werden kann und damit eine realitätsnähere Rangreihung der Sanierungsmaßnahmen möglich wird. Sie ermöglicht damit eine weitaus differenziertere Auflistung des baulichen / betrieblichen Sanierungsbedarfes und eine entsprechend abgestufte Umsetzung einschließlich der gemeldeten Sofortmaßnahmen.
Auf Basis der Zugehörigkeitsfunktionen kann mit Hilfe von Klassifizierungsregeln (Inferenzmechanismus), die die Randbedingungen berücksichtigen (Bild 2), der Fuzzyvektor der Klassifizierung ermittelt werden. Dieser wird mittels Defuzzifizierung in seine numerische Entsprechung als stufenloser Wert der Schadensklasse übertragen (Bild 3).
Die Schadensklasse ist darüber hinaus gemäß DWA-M 149-3 getrennt jeweils den Schutzzielen / Anforderungen (Standsicherheit, Betriebssicherheit und Dichtheit) zu zuweisen.
1.3 Ermittlung der Substanzklasse zur Bestimmung des Abnutzungsvorrates
Auf Basis der so ermittelten Schadensklassen für jeden Schaden in der Haltung erfolgt die Ermittlung der Substanzklasse pro Haltung. Bei STATUSKanal [6] wird dies z. B. durch eine transparente Verknüpfung der gewogenen Schadensschwere (GSS) mit dem Schadenskonzentrationswert (SKW) realisiert. Die gewogene Schadensschwere (GSS) gibt Aufschluss über die Schwere (Schadensklasse) und das Ausmaß (Schadenslänge) von Schäden innerhalb einer Haltung. Sie wird anhand des Schadensprofils ausschließlich aus den Anteilen der beschädigten Teilstücke einer Haltung berechnet. Der Schadenskonzentrationswert (SKW) gibt Aufschluss über die Verteilung der Schäden innerhalb einer Haltung unter Berücksichtigung ihrer Länge und Station, nicht aber über die Zustandsklasse. Zur Ermittlung des Schadenskonzentrationswertes werden aus dem Schadensprofil die Schadenslängen als Anteile an der Gesamtschadenslänge ermittelt.
Die Substanz wird auf diese Weise für jedes der Schutzziele (Standsicherheit, Betriebssicherheit und Dichtheit) ermittelt. Durch Verknüpfung der Ergebnisse erhält man die Gesamtsubstanz. Die Ergebnisdarstellung ist dementsprechend jeweils viergeteilt (Bild 5). Aus der Verteilung der Gesamtsubstanz kann für den vorliegenden Anwendungsfall abgeleitet werden, dass bei ca. 6,1 % der Haltungslängen der Abnutzungsvorrat (AV) praktisch aufgebraucht ist. Weitere ca. 10,1 % der Haltungslängen besitzen einen niedrigen Abnutzungsvorrat. Der überwiegende Längenanteil im betrachteten Entwässerungssystem befindet sich jedoch in einem unkritischen Substanzbereich.
Die Anwendung dieser wesentlich differenzierteren und realistischeren Beurteilung von Haltungszustand und Haltungssubstanz reduziert das Risiko von Fehlentscheidungen im Rahmen der Sanierungsplanung signifikant und steigert die Maßnahmeneffizienz im Rahmen einer Sanierungsplanung bzw. eines Abwasserbeseitigungskonzeptes (ABK) erheblich.
2 Anwendung von Alterungsmodellen zur Ermittlung des optimalen Sanierungszeitpunkts
Der optimale Sanierungszeitpunkt ist nicht zwangsläufig der Zeitpunkt, der im Rahmen einer Grenzkostenrechnung als derjenige ermittelt wird, ab dem der Restwert eines Vermögensgegenstandes niedriger ist als die Ausgaben für die Sanierung dieses Vermögensgegenstandes. In die Kostenbetrachtung muss mit einfließen, dass auch der Aufwand für die Sanierung mit der Gebühr an den Betreiber zurückfließt. Bei dieser Betrachtung wird unter gebührenrechtlichen Gesichtspunkten nicht in die Kalkulation einbezogen, dass der noch auf dem Vermögensgegenstand stehende Restbuchwert unwiederbringlich verloren ist. Es handelt sich handelsrechtlich um eine Bilanzkürzung, bei der mit dem Vermögensgegenstand auf der Aktivseite auch der noch auf diesem Vermögensgegenstand stehende Buchwert auf der Passivseite verloren geht [19].
Vor diesem Hintergrund wird der optimale Sanierungszeitpunkt als derjenige definiert, zu dem mit geringstmöglichem Material- und Kapitaleinsatz die maximal mögliche (Rest-)Nutzungsdauer erzielt werden kann. Dies ist haushaltstechnisch betrachtet der Zeitraum, in dem der maximale Anteil des noch vorhandenen Restbuchwerts erlöst oder, anders formuliert, der Ausfall von satzungsgemäß zustehenden Einnahmen verhindert oder zumindest minimiert werden kann.
Der optimale Sanierungszeitpunkt ergibt sich somit aus der verbleibenden Betriebsdauer bzw. Restnutzungsdauer des zu sanierenden Vermögensgegenstandes, dem Mittelrückfluss aus der Sanierungsmaßnahme, dem noch vorhandenen Restbuchwert, einer möglicherweise politisch festgelegten Gebührenobergrenze und der Kombinationsmöglichkeit von Koordinierungsmaßnahmen mit anderen Sparten (Mehrsparten-Strategie).
Die Basis für die Ermittlung optimaler Sanierungszeitpunkte liefert die prognosegestützte Strategieoptimierung, mit der Investitionen über längere Zeiträume effektiv verteilt und nachhaltige Bestandsentwicklungen ermöglicht werden.
Hier gilt das Motto: es reicht nicht aus, eine Strategie im Rahmen des ABK zu haben, man muss auch wissen, dass sie langfristig funktioniert und hinsichtlich technischer, finanzieller und ökologischer Zielgrößen den optimalen Handlungspfad darstellt. Um diesen Blick in die Zukunft zu ermöglichen, sind Alterungsmodelle verpflichtender Bestandteil des hier dargestellten Optimierungsansatzes von Sanierungsstrategien und ABK. Basierend auf einer mathematischen Abbildung der örtlichen Netzalterung erlauben sie solide Vorhersagen über den zukünftigen Sanierungsbedarf. Durch die i.d.R. über einen Zeitraum von 15 Jahren gewonnenen Inspektionsdaten, ist deren Aussagekraft infolge der fortschreitenden Netzverschlechterung nur bedingt für die laufende Sanierungsplanung geeignet. Daher muss mittels einer Gegenwartsprognose zuerst eine einheitliche Ausgangsbasis geschaffen werden, d. h. alle Zustands- und Substanzklassen sind auf den aktuellen, heutigen Betrachtungshorizont fortzuschreiben.
Die technische Nutzungsdauer der Objekte von Entwässerungssystemen wird bei Alterungsmodellen als statistische Zufallsgröße betrachtet, der eine Wahrscheinlichkeitsverteilung zugeordnet werden kann. Im Bild 6 (oben) ist exemplarisch eine durch eine Weibullfunktion beschriebene Lebensdauerverteilung abgebildet. Sie beschreibt die Wahrscheinlichkeit, mit der das betrachtete Objekt ein bestimmtes Alter erreicht. Die Wahrscheinlichkeit mit der dieses Objekt ein bestimmtes Alter überlebt, wird durch die Überlebenswahrscheinlichkeitsfunktion (auch Überlebensfunktion genannt) beschrieben (Bild 6, unten). Diese wird z. B. aus dem Integral der Lebensdauerverteilung ermittelt [20].
Da die Objekte eines Entwässerungssystems einer kontinuierlichen Zustandsverschlechterung unterliegen, reicht die üblicherweise in Alterungsmodellen eingeschränkte Betrachtung mit zwei Zuständen (lebend/tot bzw. funktionsfähig/nicht funktionsfähig) hier nicht aus. Aus diesem Grund werden in STATUSKanal [6] Überlebungsfunktionen im Alterungsmodell analog zur Zustands- und Substanzbewertung in sechs fuzzifizierte Klassen und entsprechend fünf Überlebensfunktionen eingeteilt. Es ergeben sich somit jeweils Scharen von sogenannten Zustands- bzw. Substanzüberlebensfunktionen. Soweit für unterschiedliche Haltungsmerkmale (Rohrwerkstoff, Überdeckungshöhe, Nennweite, etc.) eine für die statistische Auswertung signifikante Datenmenge vorhanden ist, können auf diese Weise die Überlebensfunktionen auch differenziert für unterschiedliche Haltungsgruppen (Cluster) mathematisch bestimmt werden, so dass für alle darin enthaltenen Objekte ein homogenes Alterungsverhalten prognostiziert werden kann.
Die Zustandsüberlebensfunktionen beschreiben, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Cluster den einzelnen Zustandsklassen angehört und damit eine entsprechende Sanierungsdringlichkeit aufweist. Grundsätzlich erhöht sich mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit für einen dringenden oder sofortigen Handlungsbedarf.
Die Substanzüberlebensfunktionen beschreiben, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich ein Cluster in einer bestimmten Substanzklasse befindet und damit einen entsprechenden Abnutzungsvorrat aufweist. Der Verlauf der Substanzüberlebenskurven kennzeichnet die relativen Verweilzeiten der Haltungen in den Substanzklassen und gibt infolgedessen Aufschluss über die Alterungsgeschwindigkeit der Haltungen bezogen auf die Substanz im betrachteten Netz.
Im Bild 7 sind Substanzüberlebenskurven einmal differenziert nach den Schutzzielen Standsicherheit, Dichtheit, Betriebssicherheit und danach auch gemeinsam für alle Schutzziele dargestellt. Anhand ihrer Verläufe ist das unterschiedliche Alterungsverhalten zu erkennen. Über die Schnelligkeit des Überganges in die jeweils nächstschlechtere Substanzklasse und die Länge des Aufenthaltes in derselben lassen sich erste generelle Aussagen hinsichtlich des Alterungsprozesses treffen und diese mit den Erfahrungen des Netzbetreibers verifizieren bzw. abgleichen. Breit gefächerte Substanzüberlebenskurven mit großen Abständen deuten auf lange Verweilzeiten in den zugehörigen Substanzklassen hin. Dies trifft im dargestellten Beispiel beim Schutzziel „Dichtheit“ zu. Folgen die Substanzüberlebenskurven in kurzen Abständen aufeinander, so ist von einer hohen Alterungsgeschwindigkeit auszugehen, wie im Fall des Schutzzieles „Standsicherheit“.
2.1 Alterungsmodell
Die Prognosen der Auswirkungen unterschiedlicher Strategievarianten geben Aufschluss über die künftigen Netzentwicklungen unter bestimmten Voraussetzungen und können so die mittel- und langfristigen Konsequenzen heute getroffener Entscheidungen aufzeigen. Das Alterungsmodell in STATUSKanal basiert z. B. auf den für die Objekte ermittelten Zustands- und Substanzüberlebensfunktionen. In diesem Zusammenhang werden die daraus jeweils abgeleiteten Kurven als Alterungskurven bezeichnet. Für die Prognose der Netzentwicklung wird hier das Modell der Semi-Markov-Ketten verwendet. Sie erlauben die Alterungssimulation eines Entwässerungssystems als stochastischen Prozess über einen längeren Zeitraum und dadurch Vorhersagen über künftige Entwicklungen jedes Objektes zu machen.
Hierzu werden die möglichen Zustände, in denen sich das Objekt befinden kann, aufgelistet und die zugehörigen Aufenthalts- bzw. Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen den Zuständen beschrieben. Charakteristisch für Markov-Prozesse ist dabei, dass die zukünftige Entwicklung des Systems nur von dem zuletzt beobachteten Zustand abhängt, nicht aber von früheren Zuständen [21]. Die Alterungsprognose von Entwässerungssystemen auf der Basis von Markov-Ketten erfordert zusätzlich die nachfolgend erläuterten Spezifikationen.
Bei der Betrachtung von reinen Alterungsprozessen ohne Sanierungsinterventionen (Reparatur, Renovierung oder Erneuerung) ist grundsätzlich von unidirektionalen Markov-Ketten auszugehen. Das bedeutet, dass sich der Zustand und die Substanz einer Haltung oder eines anderen Objektes nur verschlechtern können und diese Entwicklung folglich nur in eine Richtung verläuft. Der Alterungsprozess ist mathematisch endgültig beendet, wenn die schlechteste Substanzklasse erreicht ist, d. h. ein endgültiger Ausfall vorliegt. Dieser Zustand wird als absorbierend bezeichnet, denn er wird nach Erreichen nicht mehr verlassen und kann nur durch eine Erneuerung aufgehoben werden, wodurch ein neues Alterungsobjekt entsteht.
Anhand von statistischen Auswertungen der Inspektionsdaten der Objekte mithilfe zeitabhängiger Semi-Markov-Prozesse können unterschiedliche Verweilzeiten in den einzelnen Zustands- und Substanzklassen nachgewiesen werden.
Die Übergangswahrscheinlichkeiten der Alterungskurven in die nächstschlechtere Klasse sind dabei vom betrachteten Zeitpunkt, dem damit verbundenen Alter sowie der auf Basis der letzten Inspektion ermittelten Zustand- / Substanzklasse (falls vorhanden) des untersuchten Objektes abhängig. Dieser Sachverhalt findet seinen Niederschlag darin, dass für den Übergang von einer Klasse zur nächsten jeweils altersabhängige und netzspezifische Übergangswahrscheinlichkeiten angesetzt werden. Die Genauigkeit der Prognose korreliert mit der Qualität und dem Umfang der vorhandenen Inspektionsdaten.
Das Alterungsmodell ermöglicht darüber hinaus auch die Analyse der Restnutzungsdauer (Restnutzungsdaueranalyse) für jedes Objekt, wobei die Zustands- und Substanzveränderung über die Zeit und der Zeitpunkt, ab dem ein Objekt real erneuerungsbedürftig (Ausfall) ist, ermittelt wird.
Grundlage für eine Alterungsmodellierung ist die ungestörte Netzalterung, d. h. es erfolgt keine Intervention durch Sanierungsmaßnahmen. Diese Annahme ist in analytischer Hinsicht von großer Bedeutung, da nur so die Geschwindigkeit des netzspezifischen Alterungsprozesses anschaulich beschrieben werden kann.
Als Ergebnis liefert das Alterungsmodell für alle Objekte mit ausreichendem Datenbestand sowohl eine tabellarische Zuordnung der fuzzifizierten Zustands- und Substanzklassen für Objekte eines Entwässerungsnetzes zum Beurteilungszeitpunkt als auch deren zeitliche Fortschreibung, z. B. für die kommenden 40 Jahre (Bild 10 und Bild 11). Das in den Bildern dargestellte Entwässerungssystem weist eine Vielzahl an Haltungen in den Zustandsklassen ZK 4 und ZK 5 und damit hohe Sanierungsdringlichkeiten auf (Bild 10). Betrachtet man jedoch die Substanzklassen der Haltungen des gleichen Entwässerungssystems (Bild 11), ergibt sich ein weniger dramatisches Bild. Hier wird der Unterschied zwischen Zustandsklasse und der Substanzklasse deutlich. In diesem Fall würde sich die Bedarfsliste unter gemeinsamer Berücksichtigung von Zustands- und Substanzklasse wesentlich von einer nur auf Basis der Zustandsklasse ermittelten Bedarfsliste unterscheiden.
Die zeitliche Fortschreibung der Zustands- und Substanzveränderung unter der Annahme, dass sich bei zukünftigen Betriebs-, Unterhalts- und Sanierungsentscheidungen im betrachteten Entwässerungssystem keine Änderungen ergeben (Handlungsmaxime „Weiter-so“), zeigen Bild 12 und Bild 13. Die Entwicklung der Zustandsklassen im Bild 12 zeigt, wie sich die kurzfristig zu behebenden Schäden von gegenwärtig 24 % auf über 50 % im Zeitraum von 40 Jahren verdoppeln. Die Entwicklung der Substanzklassen (Bild 13) im gleichen Zeitraum zeigt einen Anstieg der Haltungen mit niedrigem bzw. aufgebrauchtem Abnutzungsvorrat von 35 % auf ca. 80 %.
Damit stehen dem Netzbetreiber frühzeitig Informationen zur Verfügung, um Risiken seiner aktuellen Handlungsweise erkennen und quantifizieren, aber auch eine Strategieoptimierung durchführen zu können.
2.2 Optimierung der Sanierungsstrategie
Ein solides Alterungsmodell bildet die Grundlage für Wirksamkeitsanalysen von Sanierungsstrategien und die Festlegung von optimalen Sanierungszeitpunkten im Rahmen eines ABK. Durch die Vorgabe von Budgetgrößen, ökologischen und hydraulischen Anforderungen sowie weiteren netzspezifischen Randbedingungen können verschiedene Strategien hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Substanzentwicklung, die Sanierungskosten, die Gebührenhöhe etc. eingehend untersucht werden (Bild 14).
Insbesondere die Prognose der Substanzentwicklung ermöglicht die Ermittlung des vorhandenen bzw. verbleibenden tatsächlichen Restbuchwertes des Vermögensgegenstandes bzw. wie hoch entweder der Ausfall der Kommune von noch zustehenden Einnahmen aus den vorhandenen Vermögenswerten ist oder welche Erträge langfristig zusätzlich erlöst werden können.
Die Prognose der netzspezifischen und strategieabhängigen Alterungsprozesse erlaubt dabei den zukünftigen Sanierungsbedarf und die Wirksamkeit bzw. die Wirtschaftlichkeit der gewählten Sanierungsstrategie für unterschiedliche Planungszeiträume zu verfolgen und zu beurteilen. Gleichzeitig lassen sich vorausschauende Aussagen zum erforderlichen finanziellen und personellen Mitteleinsatz ableiten, so dass die Diskussion zwischen technischen und kaufmännischen Entscheidungsträgern eine belastbare Basis erhält. Durch die Verknüpfung von unter technischen Gesichtspunkten kostenoptimalen Sanierungszeitpunkten mit einer Optimierung des Mittelrückflusses, der sich aus den Restbuchwerten der einzelnen Vermögensgegenständen ergibt, wird eine Sanierungsstrategieoptimierung ermöglicht, die den kostenoptimalen Sanierungszeitpunkt auf den Zeitpunkt verschieben kann, der mit dem optimalen Mittelrückfluss aus den Kommunen satzungsgemäß zustehenden Einnahmen aus ihren ursprünglichen Investitionen in Abwasseranlagen zusammen fällt.
Die Auswertung der optimierten Sanierungsstrategie kann z.B. unter folgenden Kriterien erfolgen:
– Gebührenentwicklung
– Vermögenssicherung
– Substanzwerterhaltung (Generationengerechtigkeit)
– Verfügbare Mittel aus Abschreibungen
– Stadtentwicklung
– Personelle Kapazitäten zur Umsetzung
3 Fazit zur Zuverlässigkeit von Alterungsmodellen
Die Aussagekraft langfristiger Prognosen ist in starkem Maße von der detaillierten, ingenieurmäßigen Auseinandersetzung mit allen genannten Teilaspekten abhängig. Die Sicherstellung einer entsprechenden Prognosequalität ist grundsätzlich unverzichtbar. Zum einen sollten die Prognosen bei ähnlichen Daten ähnliche Ergebnisse liefern und damit stabil sein; zum anderen sollten die Ergebnisse den tatsächlichen Netzalterungsprozess so präzise wie möglich abbilden. Das Alterungsmodell von STATUSKanal wurde mit Hilfe von verfügbaren Wiederholungsinspektionen durch Ex-Post-Prognosen überprüft. Dabei wurden durch die Gegenüberstellung der auf der Basis von Erstinspektionen prognostizierten Werte mit den tatsächlichen Werten der Wiederholungsinspektionen die Substanzentwicklungen verifiziert. Die mittlere Abweichung für einen Prognosezeitraum von 10 bis 15 Jahren betrug dabei 0,14 Substanzklassen. Bezogen auf eine Skala von fünf Substanzklassen ergibt sich damit eine mittlere Abweichung von 2,8 %. Diese Abweichung ist vor dem Hintergrund des langen Prognosezeitraumes als vernachlässigbar gering einzustufen. Zudem steht dieser geringen Unsicherheit ein wesentlicher Erkenntnisgewinn über die zukünftige Netzentwicklung und damit eine deutliche Erhöhung der Planungssicherheit gegenüber.