Papiergestützte Befahrungsprotokolle als Datengrundlage der Kanalsanierungsplanung auf Netzebene
Netzbezogene Sanierungsstrategien im Sinne des DWA-Merkblatts 143-14 erfordern als Datengrundlage eine flächendeckende Zustandsbeschreibung des Gesamtnetzes. Relevant ist neben der Zustandsklassifizierung (z.B. nach ATV) auch eine Substanzklassifizierung, welche den Abnutzungsvorrat beschreibt und – mit Hilfe eines Alterungsmodells – eine Prognose der Restnutzungsdauer erlaubt. Relevant ist dieses Thema auch im Zuge der geforderten Inspektion und Sanierung von Hausanschlüssen. Aus technisch-wirtschaftlicher Sicht ist es im Regelfall zweckmäßig den Zeitplan der Hausanschlusssanierung auf den Erneuerungsbedarf der Haltungen abzustimmen.
Für das von der Eurawasser Betriebsführungsgesellschaf mbH betriebene Kanalnetz der Stadtentwässerung Goslar GmbH lag ein flächendeckender flächendeckender Zustandsbefund aller Haltungen in Form von ausgedruckten Befahrungsprotokollen vor. Diese Datenlage ist nicht ungewöhnlich und führt häufig dazu, dass die Zustandsbefunde zwar für die projektbezogene Sanierungsplanung herangezogen werden, in der netzbezogenen Planung aber unberücksichtigt bleiben. Diese stützt sich dann auf grobe Anhaltspunkt für den Netzzustand, wie z.B. die Altersverteilung, und erfordert aufwändige gebietsbezogene Wiederholungsbefahrungen. In Goslar wurden stattdessen die ausgedruckten Befahrungsprotokolle verlustfrei in die Kanaldatenbank importiert. Auf diese Weise wurde zeitnah und kostengünstig ein flächendeckender detaillierter Zustandsbefund bereitgestellt, dessen Qualität nach rechnerischer Aktualisierung eine fundierte netzbezogene Sanierungs- und Inspektionsplanung ermöglicht. Der Bedarf an Wiederholungsbefahrungen beschränkt sich auf die projektbezogene Vorbereitung von Sanierungsmaßnahmen sowie die turnusmäßige Befahrung von ca. 10% des Kanal netzes pro Jahr.
Die Eurawasser Betriebsführungsgesellschaft mbH, Niederlassung Goslar, ist ein privater Umweltdienstleiter mit dem Kerngeschäft Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung. Neben dem Kerngeschäft zeichnet die Eurawasser am Standort Goslar zusätzlich für das Hausanschlussmanagement sowie für die Straßenreinigung und Teile des Winterdienstes Verantwortung. Investitionen in das Abwassernetz sowie in die technischen Anlagen werden in Goslar durch die Stadtentwässerung Goslar GmbH (SGG) finanziert und umgesetzt. Die SGG setzt sich aus den Gesellschaftern Stadt Goslar (51%) und der Eurawasser Aufbereitungs- und Entsorgungsgesellschaft mbH (49%) zusammen.
Die Unesco-Welterbestadt Goslar verfügt über ein ca. 433 km langes öffentliches Kanalnetz. Durch die enge Bebauung der historischen Altstadt mit ihren zum Teil 400 Jahre alten Gebäuden ist die Sanierung der Kanäle enorm anspruchsvoll. Um auch den kommenden Generationen ein leistungsfähiges Abwassernetz zu hinterlassen, investiert die Stadtentwässerung Goslar GmbH im erheblichen Umfang in die Werterhaltung der Anlagen und Netze. Abb. 1 zeigt einen modernen Wasseraufbereitungswagen der SGG. Dabei verfolgt die SGG die Mehrspartenstrategie, um Synergieeffekte mit den verschiedensten Straßenbaulast- und Versorgungsträgern zu nutzen. Zum anderen wird die Substanzwertstrategie verfolgt, um durch Festlegung mittelfristiger Budgets den Erhalt des Wirtschaftsgutes Kanal zu gewährleisten. Durch die Verfügbarkeit digitaler Zustand- und Bestandsdaten innerhalb eines geographischen Informationssystems ist es der Eurawasser Betriebsführungsgesellschaft möglich, Sanierungen plausibel, bedarfsgerecht und transparent zu planen und umzusetzen.
Zur flächendeckenden Dokumentation des Erhaltungszustands eines größeren Kanalnetzes müssen Befahrungsbefunde mehrerer Jahre ausgewertet werden, die zum Teil bis zu zehn Jahre alt sein können. Maßgeblich für die Auswertbarkeit der Protokolle ist die Qualität der Inspektionen, die – örtlich unterschiedlich – etwa ab der Jahrtausendwende den damals beobachteten Haltungszustand realistisch abbildet. Auch bei ausreichender Abbildungsqualität weisen ältere Befahrungsprotokolle in der Regel mehrere der folgenden Defizite auf, die einen Import der Daten in eine Kanaldatenbank erschweren:
Die genannten Defizite konnten im Ingenieurbüro Hochstrate durch eine computergestützte halbautomatische Bearbeitung unter Verwendung hauseigener Software wirtschaftlich effizient behoben werden. Der Inhalt der Protokolle wurde im ISYBAU’96-Format an den Netzbetreiber übergeben.
Die Datentransformation dient dazu, die o.g. Defizite der ausgedruckten Befahrungsprotokolle zu beheben.
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Der Zeitaufwand der Protokollauswertung beträgt – je nach Netzgröße – einige Monate, während die Neubefahrung in der Praxis (auch aus Kostengründen) einige Jahre erfordert. Als grober Richtwert liegt der Zeitaufwand also bei 1/12 der Neubefahrung.
Die Kosten sind pro Haltung etwa so hoch wie eine Neubefahrung pro Meter. Daraus resultieren Kosten von etwa 1/40 im Verhältnis zur Neubefahrung.
Der Nutzen der Protokollauswertung ist für die projektbezogene und die netzbezogene Sanierungsplanung unterschiedlich. Für die projektbezogene Sanierungsplanung einzelner Straßenzüge sind 10 Jahre alte Zustandsdaten wenig hilfreich. Bereits nach 8 Jahren ist zu erwarten, dass der Zustand von 2/3 der Haltung aktuell um mindestens eine Klasse schlechter ist als im Befahrungsprotokoll dokumentiert (Abb. 2). Für die netzbezogene Sanierungsplanung ist ein veraltetes Zustandsbild etwas informativer als vollständig fehlende Zustandsdaten, allerdings verfälschen Zustandsdaten mit stark unterschiedlichem Alter die räumliche Schadenverteilung im Netz (Dies Problem besteht natürlich auch, wenn alle Zustandsdaten originär digital erfasst wurden.).
Wirklich aussagekräftig werden die aus der Protokollauswertung gewonnenen Zustandsdaten durch rechnerische Alterung, d.h. Aktualisierung auf das aktuelle Betrachtungsjahr. Mit dem Selben Alterungsmodell kann natürlich auch die zukünftige Zustandsverschlechterung beschrieben werden. Die Qualität der Zustandsprognose ist hoch. In einem untersuchten Fallbeispiel wurde der Zuwachs der (schlechtesten) Prioritätsklasse PK1 von 1995 bis 2004 von 11% auf 21% prognostiziert. Tatsächlich stieg er von 11% auf 25% (Quelle: Bürogemeinschaft Stein/Hochstrate (2004), S. 191 -198). Die hohe Prognosequalität gilt für große Stichproben (ab ca. 100 Haltungen) und ist damit relevant für die Auswahl von Sanierungsgebieten und die Budgetplanung. Haltungsbezogen ist ein aufgrund von Alterung errechneter vordringlicher Schaden nicht als Sanierungsbedarf, sondern als Informationsdefizit und ggf. als Inspektionsbedarf zu interpretieren.
Die Auswertung der ausgedruckten Befahrungsprotokolle kann eine Neubefahrung nicht ersetzen. Andererseits liefert sie in Verbindung mit einer Zustandsprognose zeitnah und kostengünstig ein flächendeckendes Zustandsbild, welches für die Netz- und gebietsbezogene Sanierungsplanung hinreichend aussagekräftig ist und eine am Informationsdefizit orientierte Festlegung zukünftiger Inspektionsgebiete ermöglicht.
Das DWA-Merkblatt 143(14) „Sanierungsstrategien“ empfiehlt Alterungsmodelle für die „Substanzwertstrategie“, die der Bestandswertsicherung des Kanalnetzes und der damit verbundenen Budgetplanung dient. Für derartige Planungen auf Netzebene ist der behebbare Ausfall (= vordringlicher Reparaturschaden) vom endgültigen Ausfall (= vordringlicher Substanzschaden) zu unterscheiden. Zur Prognose dieser beiden Ereignisse werden zwei Zustandsklassen verwendet, die Prioritätsklasse PK und die Substanzklasse ZK, deren Berechnung in Abb. 3 und Abb. 4 anhand eines Zahlenbeispiels erläutert wird.
Die rechnerische Alterung wird auf der Grundlage des haltungsbezogenen Inspektionsbefunds (PK, ZK) und des Alters der Haltung im Inspektionsjahr mit Hilfe netzspezifischer Zustandsübergangsfunktionen bestimmt. Ergebnis dieser Prognose sind die geschätzten Zustandsübergangsjahre zwischen den ganzzahligen Prioritäts- und Substanzklassen, die zum Teil in der Vergangenheit und zum Teil in der Zukunft liegen. Diese Zahlen erlauben für das aktuelle und jedes gewählte Prognosejahr eine flächendeckende haltungsscharfe Beschreibung des geschätzten Netzzustands, sowie des Reparatur- und Erneuerungsbedarfs. Diese Datengrundlage ist z.B. auch hilfreich bei der gebietsbezogenen zeitlichen Staffelung der Inspektion und Sanierung privater Hausanschlüsse.
Flächendeckende Inspektionsbefunde – die nur als Papierausdruck vorliegen – werden häufig nicht digital aufbereitet, so dass das in der Kanaldatenbank dokumentierte Zustandsbild des Netzes bis zur nächsten Wiederholungsbefahrung über Jahre hinweg unvollständig bleibt. Damit fehlt eine wichtige Planungsgrundlage für gesamtnetzbezogene Sanierungsplanungen, wie z.B. die gebietsbezogene zeitliche Staffelung der Inspektion und Sanierung privater Hausanschlüsse. Ursächlich ist die Überschätzung der Schwierigkeiten und Kosten der Aufbereitung ausgedruckter Dokumente. Tatsächlich ermöglicht die Kombination von Datenaufbereitung und rechnerischer Aktualisierung die zeitnahe und kostengünstige Erstellung eines flächendeckenden Zustandsbilds des Kanalnetzes (einschließlich Zustandsprognose), dessen Qualität für Gebiets- und budgetbezogene Planungen ausreicht. Wiederholungsinspektionen können dann auf den gesetzlich vorgegebenen Mindestumfang beschränkt und für Zwecke der objektbezogenen Sanierungsplanung und der Behebung erkannter Informationsdefizite genutzt werden.n