Deutschland im Investitionsstau
Die Straßen und Brücken kaputt, die Kanalisation löchrig, die Energiewende tritt auf der Stelle. Was tun? tHIS fragte die im Bundestag vertretenen Parteien, wie sie die Probleme lösen würden.
Selten war sich Deutschland so einig: Schlecht sieht es aus um unsere Infrastruktur. Straßen und Schienen, Brücken und Kanäle, teilweise auch die Schulen verfallen schneller, als saniert und repariert wird. Einhelliger Tenor von Bürgern und Betroffenen, von Medien und Industrie: Der Staat und die Kommunen tun zu wenig.
Prof. Thomas Bauer, Präsident des Hauptverbands der deutschen Bauindustrie (HDB), sah sich deshalb Anfang Juni in Berlin auf dem Tag der Deutschen Bauindustrie zu mahnenden
Worten genötigt: „Deutschland betreibt bereits seit zehn Jahren seine Infrastruktur – seine Verkehrswege, seine Ver- und Entsorgungsnetze, aber auch seine soziale Infrastruktur – auf Verschleiß. Wir reden hier über einen jahrzehntelang aufgestauten Bedarf.“
2013 wird das elfte Jahr in Folge sein, in dem der deutsche Staat weniger saniert und neu baut, als der Zahn der Zeit kaputt nagt. Allein im kommunalen Bereich beläuft sich der Investitionsstau in der Verkehrsinfrastruktur, bei Kanalisation und Leitungssystemen, bei Schulen und Kindertagesstätten auf gewaltige 100 Milliarden Euro. Weitere 53 Milliarden Euro wären unter Berücksichtigung der demographischen Entwicklung für den altersgerechten Umbau kommunaler Infrastruktur notwendig; weitere 75 Milliarden Euro ständen für die energetische Sanierung kommunaler und sozialer Infrastruktur an, schätzt die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Deutschland, das in der Kategorie
„Infrastruktur 2008“ im weltweiten Vergleich noch auf Platz drei
landete, ist inzwischen auf den zehnten Rang abgerutscht.
Mit derart harten Fakten konfrontiert, reagiert die Bundesregierung bislang eher zurückhaltend: Verkehrsinvestitionen von gut zehn Milliarden Euro pro Jahr wolle man bis 2016 bereitstellen, so Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU). Diese Summe sei eine „verlässlich hohe Investitionslinie“. Die meisten Fachleute halten diese Investitionen jedoch für viel zu niedrig: „Das reicht noch nicht einmal für die Instandhaltung“, so Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK).
Deutschland ist beim Investieren inzwischen trauriges Schlusslicht unter den Industrieländern: Während der Wert des staatlichen Anlagevermögens in den vergangenen zehn Jahren in Spanien und Großbritannien inflationsbereinigt um 200 Milliarden Euro, in Frankreich um 115 und selbst in Italien um 55 Milliarden Euro wuchs, sank es hierzulande um fast 30 Milliarden Euro – das errechnete das Handelsblatt aus Daten der Europäischen Kommission. Der Wert des staatlichen Vermögens nimmt damit kontinuierlich ab.
Die Verbraucher-Vereinigung ADAC geht etwa davon aus, dass im Fernstraßennetz mindestens 15 % der Fahrstreifen dringend und zeitnah saniert werden müssten, um größere Schäden abzuwenden. Im kommunalen Straßennetz seien sogar die Hälfte der Straßen akut substanzgefährdet. Auch ein Drittel aller Brücken sei nur noch in ausreichendem, weitere 14 % der Brücken sogar in kritischem Zustand – Tendenz steigend.
In der zunehmenden Zahl bröckelnder Brücken und gammelnder Straßen sehen Experten eine große Gefahr für den Wohlstand: Jochen Pimpertz vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln befürchtet: „Langfristig gefährden wir unser Wachstumspotenzial, wenn wir nicht wieder mehr investieren.“ Ins gleiche Horn stößt auch der Bundesverband der deutschen Industrie.
Inzwischen wird die problematische Verkehrssituation und ihre schädlichen Einflüsse auf die Wirtschaft auch wissenschaftlich erforscht. So heißt es in einer Studie der Universität Siegen, die sich mit dem Thema Schwertransporte befasst: „Beim Verkehrsträger Straße führt der zunehmend schlechte Zustand der Verkehrsinfrastruktur dazu, dass immer weniger Strecken die notwendigen Voraussetzungen für Großraum- und Schwertransporte erfüllen. Entscheidend sind dabei die zulässigen Traglasten der Brücken. Diese sind in den letzten Jahren vielfach herabgesetzt worden. Dadurch entstehen mitunter erhebliche Umwege, die nicht nur zu Fahrtzeitverlängerungen und damit Kostenerhöhung führen, sondern in der Folge häufig auch weitere Zuständigkeitsgebiete berühren, so dass der Genehmigungsprozess noch zeitraubender wird.
Als zusätzlicher, limitierender Faktor kommen Baustellen hinzu. Sie schränken die Tauglichkeit eines Streckenabschnitts für Großraum- und Schwertransporte für einen bestimmten Zeitraum ein. Dies führt wiederum zu Umwegen. Da es sich bei Baustellen um zeitlich veränderbare Randbedingungen handelt, sind sie im Genehmigungsverfahren immer einer aktuellen Überprüfung zu unterziehen. Da die Genehmigungsverfahren aber selbstverständlich mit einem gewissen Vorlauf zum beabsichtigten Transport laufen müssen, sind auch Baustellen in Betracht zu ziehen, die derzeit noch nicht bestehen, aber für die nähere Zukunft geplant sind. Dies stellt wiederum eine zusätzliche Anforderung bei der Fahrtwegprüfung und damit im gesamten Genehmigungsverfahren dar.“
Einige deutsche Industrieunternehmen haben bereits deutlich spürbare Nachteile zu beklagen, so etwa die Firma SMS Siemag, Hersteller von Walzwerken für die metallverarbeitende Industrie. Noch vor vier Jahren brauchten deren Sattelschlepper nur einen Tag, um die gigantischen Maschinen von der heimischen Fabrik im Siegerland zum Hamburger Hafen zu fahren – heute sind es deren drei.
Das liegt an den zahlreichen maroden Brücken der Autobahnen A1 und A45. Zwar halten diese den normalen PKW- und LKW-Transport gerade noch aus, doch für Schwerlasttransporte sind sie gesperrt. Die Sattelschlepper tingeln daher meist über die Dörfer – und machen nun dort von Amts wegen die Straßen kaputt. Zusätzlich dauern die Transporte erheblich länger, kosten deutlich mehr Geld, behindern den Verkehr vor Ort und strapazieren die Nerven von Fahrern und Anwohnern.
Eine Situation, die der ADAC nicht nachvollziehen kann: „Die Straßennutzer in Deutschland bezahlen jährlich 53 Milliarden Euro an spezifischen Abgaben, die in den Bundeshaushalt fließen. Es fehlt demnach nicht an Geld für zusätzliche Verkehrsinvestitionen, sondern am politischen Willen, hiervon mehr Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.“
Prof. Bauer vom Hauptverband der Deutschen Bauindustrie kann sich als Lösungsansatz für die Finanzierungsprobleme auch eine Pkw-Maut vorstellen, diese sei den Bürgern allerdings nur unter bestimmten Bedingungen vermittelbar. Sie müsse strikt zweckgebunden sein und etwa durch Entlastungen bei der KFZ-Steuer kompensiert werden, damit die ohnehin hoch belasteten deutschen Autofahrer nicht über alle Maßen strapaziert werden.
Eine weitere Möglichkeit, dringend erforderliche Sanierungen im Fernstraßennetz voranzutreiben, so Prof. Bauer, seien Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP) – ein Standpunkt, den auch der Zentralverband Deutsches Baugewerbe (ZDB) teilt.
Doch nicht nur der marode Zustand von Verkehrswegen und Leitungssystemen ist problematisch, auch die andere große Baustelle der Politik, die Energiewende, kommt bestenfalls stockend voran. Die Gründe dafür sind vielfältig: Es gibt keine Verständigung über erforderliche Zwischenschritte und Ausbauziele der erneuerbaren Energien, über die Synchronisation ihres Ausbaus mit Stromnetzen, -trassen und -speichern. Pumpspeicher und Gaskraftwerke, die dringend benötigt werden, um an windstillen, sonnenfreien Tagen die Stromproduktion aufrecht erhalten zu können, lassen sich nicht mehr rentabel betreiben.
Zu Recht fordert die International Energy Agency (IEA) in ihrem aktuellen Bericht zur Energiepolitik der IEA-Länder: „Die Bundesregierung sollte sicherstellen, dass die großangelegten Projekte zum Ausbau der Übertragungs‐ und Verteilungsnetze (...) rechtzeitig eingeleitet werden und dass ein Regulierungssystem vorhanden ist, das ein ausreichendes Maß an finanziellen Anreizen und Investitionssicherheit zur Mobilisierung der notwendigen Investitionen in die Verteilung gewährleistet.“
Es sind viele Hürden, die einer effektiven und effizienten Umsetzung dringend erforderlicher Projekte im Weg stehen. Derzeit liegen 83 große Investitionsvorhaben mit einem gesamten Investitionsvolumen von knapp 51 Milliarden Euro auf Eis – ausgebremst durch Finanzierungsprobleme, Bürgereinsprüchen oder politischen Blockaden. Die Elbvertiefung zwischen Hamburg und der Nordsee, die den Hamburger Hafen fit für die Zukunft machen sollte, scheiterte ebenso an Bürgereinsprüchen wie der Bau einer Betonschutzwand im sächsischen Grimma, das auch prompt der diesjährigen Flut zum Opfer fiel. Das Autobahndreieck Drammetal-Salzgitter, dass die Autobahnen A7 und A39 verbinden soll, kommt nicht voran, weil das Land Niedersachsen eine Realisierung als öffentlich-privates Projekt ablehnt.
Ob Deutschland in Zukunft weiterhin als Industrie- und Wirtschaftsstandort bestehen kann oder noch weiter zurückfällt, hängt von einer raschen Auflösung des aktuellen Investitionsstaus ab. Jetzt ist die Politik gefragt, ihre vollmundigen Ankündigungen in die Tat umzusetzen.