„Das Geheimnis des Kunstrasens“
Astroturfing oder der letzte Schrei der Meinungsmache
Die Erkenntnis ist so neu nicht, gleichwohl berührt sie immer wieder unangenehm, wird man damit konfrontiert: Hinter der Bühne sieht die Welt beträchtlich anders aus als auf der Bühne. Nicht nur im Theater. Auch im wahren Leben klafft ein beachtlicher Unterschied zwischen dem, was coram publico, vor aller Welt öffentlich aufgeführt und dem, was wirklich Gedacht und Gemeint, Getan und Gelassen wird. Gerade wieder sind wir alle mit der Nase auf diesen Unterschied gestoßen worden. Wikileaks hat gründlich dafür gesorgt, dass sich nun niemand mehr die Hände in Unschuld waschen und sich auf die Position zurückziehen kann, das weder geahnt noch gewusst zu haben. Aus, vorbei, es gilt, das Ende jeder diesbezüglichen Blauäugigkeit zu konstatieren.
Schein und Sein
Die Drastik, mit der der breiten Öffentlichkeit die Inkongruenz von Schein und Sein bewusst gemacht wurde, sucht zumindest in der Nachkriegsgeschichte ihres Gleichen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich mindestens die mit dem öffentlichen Geschehen intensiver Befassenden schon immer so manches Dargebotene mit dem Begriff „Fensterrede“ charakterisierten. Und sich durchaus auch dessen bewusst waren, was der Basler Professor des römischen und kanonischen Rechts Sebastian Brant bereits 1494 in seiner Moralsatire „Das Narrenschiff“ notiert hatte: Die Welt will betrogen sein. Mundus vult decipi, so die gelegentlich auch zu hörende latinisierte Fassung dieser realitätsnahen Erkenntnis.
Astroturf
Das Kunstwort mit dem brisanten Charakter ist aus „Astroturf“ entstanden. Und Astroturf ist – der Kunstrasen, der Bodenbelag von allerlei harmlosen, der lobenswerten Körperertüchtigung dienenden Sportstätten. Und versehen mit der Allerweltsendung –„ing“ somit am besten mit künstlicher Graswurzelbewegung zu übersetzen. Erfunden in den diesbezüglich außerordentlich erfindungsreichen USA und beflügelt von all den social media-Möglichkeiten und -Aktivitäten werden beim Grassrootscampaigning „Menschen angesprochen, sich auf unterschiedliche Art und Weise für ein bestimmtes Thema oder Vorhaben einzusetzen“, so Dr. Kathrin Voss vom Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg in dem Beiheft zu „Das Parlament“ „ Aus Politik und Zeitgeschichte“ (Ausgabe 19/2010) in ihrem Beitrag „Grassrootscampaigning und Chancen durch neue Medien“. Wohlgemerkt, nicht stets und immer in ausschließlich betrügerischer Absicht!
Voss weiter: „Je nachdem, von wem die Kampagne ausgeht, werden unterschiedliche Personenkreise angesprochen. Verbände und Gewerkschaften versuchen in erster Linie die eigenen Mitglieder zu mobilisieren. Firmen wenden sich an die eigenen Mitarbeiter, aber auch an Kunden und Anwohner. NGOs versuchen neben ihren eigenen Mitgliedern meist auch die breite Bevölkerung zu erreichen. Auch die Art und Weise, wie die angesprochenen Menschen ihre Meinung zum Ausdruck bringen sollen, kann sehr unterschiedlich sein. Sie kann vom Schreiben von Briefen oder E-Mails über Anrufe bis hin zur Beteiligung an Unterschriftenlisten, formalen Petitionen oder Bürgerbegehren reichen. Aber auch Anrufe, eine bestimmte Meinung in Internetforen oder Leserbriefen zu artikulieren oder sich an Aktionen wie Boykotten zu beteiligen, können dazu gezählt werden“
Strategen
Soweit so gut. Nichts ist dagegen einzuwenden, sich als Bürger auf die eine oder andere beschriebene Art zusammenzufinden, um sich ins öffentliche Geschehen einzumischen und zu versuchen, den Dingen eine etwas andere Richtung zu geben. Aber nichts ist bekanntlich auch davor gefeit, Cleverlingen in die Hände und damit einem beachtlichen Charakterwandel anheim zu fallen. In diesem Fall „pfiffigen“ PR- und Werbestrategen, die geschwind aus der an sich guten Idee ein Trojanisches Pferd aus dem Stall „Manipulation“ machten. Mimikry sozusagen, also der Täuschung dienende pr- oder werbemäßig zentral gesteuerte und dezentral in Szene gesetzte Meinungsmache beziehungsweise -beeinflussung. Zu dem nun gar nicht mehr honorigen Zweck, die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen und für politische, kommerzielle und sonstige Absichten beziehungsweise Zwecke zu instrumentalisieren. Und das eben, indem eine spontane Bewegung aus der Öffentlichkeit heraus vorgetäuscht wird.
So mutierte Astroturfing zu einer neuen Wunderwaffe der Undercoverdurchsetzung von Interessen aller Art. „Ganz einfach“, indem es den Anschein einer unabhängigen öffentlichen Meinungsäußerung über Politiker, politische Gruppen, Ereignisse, Dienstleistungen, Produkte etc. zu erwecken verstand. Also, um den zwar unschönen, aber im Vergleich zu anderen „Nutzanwendungen“ immer noch eher harmlosen Fall zu nehmen, wenn Sie das nächste Mal im Internet nach was auch immer stöbern und interessiert die angebotenen Testimonials studieren, immer dran denken, die könnten bestellt sein.
Wie auch immer pro oder contra man also zu Wikileaks stehen mag, den drastischen Hinweis für jedermann darauf, das guter Glauben an das öffentlich Verlautbarte beziehungsweise sich öffentlich Zeigende hart an der Grenze zur Dummheit einzuordnen ist, den verdanken wir auf jeden Fall der Affaire „Wikileaks“.
Mit Astroturfing ist wieder ein Stückchen Verunsicherung mehr in unsere ohnehin an Verunsicherung so reiche Welt eingezogen. Vielleicht ist das das eigentlich Schlimme an der Sache. Was oder wem kann und darf und soll man eigentlich noch glauben? Diese Frage ist zum geflügelten Satz geworden. Und mit ihm Skepsis zur weit verbreiteten Grundeinstellung. Das ist zu beklagen. Einerseits. Andererseits bringt es aber auch die im Gerangel um Märkte, Meinungen und Vorteile arg ins Hintertreffen geratene Seriosität wieder ins Spiel zurück. Und mit ihr wenigstens für Weiterblickende die Intensivierung der Überlegung, ob es nicht angesichts all der Verunsicherung und Skepsis angeraten sein könnte, wieder vermehrt auf ein strikt seriöses Verhalten zu setzen. Im Blick auf die Unternehmen nach innen bei der Information der Mitarbeiter und überhaupt im Umgang mit ihnen. Und desgleichen nach außen in Sachen Information und Behandlung der Kunden.
Dipl.-Betriebswirt Hartmut Volk,
freier Wirtschaftspublizist, Bad Harzburg,
E-Mail: hartmut.volk@t-online.de