Eine „letzte“ Tür wird geöffnet
Rechtlichen Konsequenzen des Wegfalls der GeschäftsgrundlageAm 30. Juni 2011 hat der BGH einem nachtragsgegenständlichen Mehrkostenverlangen eines Unternehmens aufgrund Wegfalls der Geschäftsgrundlage stattgegeben, Az. VII ZR 13/10.
Das Urteil stellt sich nur auf den ersten Blick als Einzelfallentscheidung dar. Bei näherer Betrachtung reiht sich diese Entscheidung als ein weiterer Baustein in eine sich
zum Anspruchsgrund und zur Anspruchshöhe bei Nachträgen der Unternehmerseite ändernden Rechtsprechung.
I. Anspruchsgrund für
nachträgliche Mehrkosten
Der Werkvertrag unterscheidet sich vom Dienst- oder Arbeitsvertrag durch die Erfolgsbezogenheit. Der werkvertragliche
Erfolg ist nicht immer identisch mit dem vereinbarten Leistungsumfang; unter Umständen geht er über das vertraglich Vereinbarte hinaus. Die Wertung, ob der werkvertragliche Erfolg erreicht wurde, erfolgt funktional, unabhängig von der konkreten Baubeschreibung.
Der BGH hat demzufolge einen Mehrkostenanspruch zuerkannt, wenn der Unternehmer zur Erreichung des werkvertraglichen Erfolges Leistungen erbringen muss, die im hauptvertraglichen Leistungsumfang nicht enthalten waren, Urt. v. 16.07.1998 – VII ZR 350/96 -, IBR 1998, 527/528 und aus jüngster Zeit Urt. v. 08.11.2007 – VII ZR 183/05 -, IBR 2008, 77 (Blockheizkraftwerk).
Bei Streit über Inhalt und Umfang des hauptvertraglichen Leistungsumfangs ist zunächst anhand allgemeiner Auslegungsgrundsätze zu ermitteln, was von der vertraglichen Vergütungsabrede an Leistungen im Hinblick auf den werkvertraglich geschuldeten Erfolg erfasst ist und was nicht. Während der BGH früher diese Auslegung unter dem Erfolgsmoment sehr weit zu Lasten der Unternehmer vornahm, hat er in den letzten Jahren zunehmend zu Lasten der Auftraggeber die von der Vergütungsabrede des Hauptvertrages erfassten Leistungen gegenüber dem insgesamt (funktional) geschuldeten werkvertraglichen Erfolg abgegrenzt, vor allen Dingen, wenn funktionale Leistungsbeschreibung und Detailangaben zusammentreffen.
Im konkreten Fall ging es um eine detaillierte Angabe zur Dicke (geschätzt: 3 cm) eines abzubrechenden Estrichs im Rahmen einer ansonsten funktional gehaltenen Ausschreibung. Tatsächlich war die Estrichdicke im Mittel höher, etwa 4 bis 5 cm.
Der Tatrichter der Vorinstanz hat unter Berücksichtigung des Vertragsinhaltes, der sonstigen Umstände und des mit dem Vertrag verfolgten Zwecks (Erfolges!) im Rahmen einer vom BGH rechtlich als nicht zu beanstanden gewerteten Vertragsauslegung entschieden, dass der werkvertragliche Erfolg den Abbruch des Estrichs umfasse, gleich wie dick er sei. Deshalb sei für eine Anwendung der Nachtragsvorschriften der VOB/B, § 2 Abs. 5/6 VOB/B, kein Raum.
An und für sich wäre hier dem Grunde nach schon Schluss mit den Nachtragskosten des Unternehmers gewesen. Der BGH hat ihm jedoch einen Mehrkostenanspruch unter dem Gesichtspunkt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage, § 2 Abs. 7 Nr. 1 VOB/B bzw. §§ 313, 242 BGB, zuerkannt.
Dies mit folgender Begründung: Die Detailangabe (geschätzte Estrichdicke) sei aufgrund der besonderen Umstände des zu entscheidenden Falles nach den Vorstellungen beider Vertragsparteien Geschäftsgrundlage geworden. Ob dies der Fall ist, ist wiederum nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen zu ermitteln. Bestimmte vom Auftraggeber vorgegebene Mengenangaben oder Details werden nach dieser Entscheidung u. U. dann Geschäftsgrundlage der hauptvertraglichen Preisvereinbarung des Unternehmers, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind:
n es muss sich um eine für die Kalkulation des Preises erhebliche bzw. entscheidende Angabe handeln,
n der Unternehmer muss auf diese Angabe vertraut haben (und zwar in dem Sinn der Auftraggeber übernehme eine gewisse Gewähr für seine Angabe als verlässliche Kalkulationsgrundlage),
n ein Festhalten am Preis ist unzumutbar (etwa wegen Verlustes in der Position oder der Teilpauschale).
Die 20 %-Grenze in Bezug auf den Gesamtpreis (erst danach konnte bis dato von einer Unzumutbarkeit am Festhalten des Pauschalpreises gesprochen werden) ist in dem Urteil vom 30.06.2011 ausdrücklich aufgehoben worden. In Verbindung mit einem früheren BGH-Beschluss v. 23.03.2011 – VII ZR 216/08 -, IBR 2011, 315 ist eine isolierte positionsweise Betrachtung für die Frage der Zumutbarkeit am Festhalten des Preise möglich.
Im konkreten Fall hat selbst der Zusatz „geschätzt“ dem Auftraggeber insoweit nicht geholfen, als dass der Unternehmer trotz dieser Formulierung auf die ungefähre Richtigkeit dieses Schätzwertes mangels anderer gegenteiliger Anhaltspunkte vertrauen durfte.
In Zukunft werden die Auftraggeber mit der Bekanntgabe konkreter Detailangaben vorsichtiger sein müssen, wollen sie nicht im Falle der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit kostenmäßig daran festgehalten werden.
Umgekehrt bedeutet diese Rechtsprechung aber keinen Freibrief für den Unternehmer: In jedem Einzelfall wird er sich zu entlasten haben, dass er den Fehler oder die Unvollständigkeit oder die Unrichtigkeit nicht erkannt hat. Die Darlegungs- und Beweislast liegt bei ihm. Je offenkundiger der Fehler der Detailangabe ist, um so schwerer wird das Vertrauen auf die Richtigkeit vom Unternehmer darzulegen sein. An die Spekulationsrechtsprechung des BGH sei in dem Zusammenhang erinnert, Urt. v. 18.12.2008 – VII ZR 201/06 -, IBR 2009, 128.
II. Anspruchshöhe
Im Hinblick auf die Berechnung der Höhe ist bei einem Mehrkostenanspruch aus Wegfall der Geschäftsgrundlage jedoch Vorsicht geboten: Die Berechnung der Höhe erfolgt nicht in bloßer Fortschreibung der vorvertraglichen Kalkulationswerte, sondern es findet ein Abgleich des tatsächlich entstandenen Kostenaufwandes (Ist) mit dem ohne die vermeintliche Zusatzleistung ansonsten entstandenen Kostenaufwandes (Soll) statt, BGH, Beschl. v. 23.03.2011 – VII ZR 216/08 i.V.m. OLG Schleswig, Urt. v. 10.10.2008 – 17 U 6/08. Diese Hinwendung zur Ist-Kostenbetrachtung stellt eine konsequente Fortführung der BGH-Rechtsprechung zur Höhe der Mehrkosten aus verschobenem Zuschlag und verschobenem Baubeginn, dar, Urt. v. 10.09.2009 – VII ZR 152/08 – (verschobener Zuschlag II), NZBau 2009, 771/774.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein geschütztes Vertrauen in die Realisierbarkeit der Angebotskalkulation nach BGH nicht besteht, Urt. v. 10.09.2009 – VII ZR 152/08 -, NZBau 2009, 771/775. Deshalb tendiert der BGH zu einem Nachweis für die Höhe anhand der nachvertraglichen Kosten. Ein rein nachvertraglicher Kostenabgleich würde jedoch das Vertragspreisniveau, z.B. Vergabegewinne, also versteckte Gewinne zwischen Ausführungskosten und kalkulierten Kosten durch eine günstige NU-Vergabe, oder etwa einen guten Preis, etwa durch einen günstigen Leistungsansatz oder durch versteckte Gewinne im Bereich der Zuschläge, nicht erfassen. Das liefe praktisch auf einen Schadensnachweis wie im Schadensrecht hinaus.
Einigkeit besteht daher, dass das Vertragspreisniveau des Hauptvertrages in irgendeiner Form berücksichtigt und erhalten bleiben soll.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Die Mehrkosten der Einzelkosten der Teilleistungen (EKTs), die direkten Herstellkosten, werden anhand eines nachvertraglichen Abgleichs zwischen tatsächlichem Soll- und Ist-Kostenaufwand ermittelt. Ein etwaiges gutes oder schlechtes Preisniveau des Hauptauftrages, etwa durch bestimmte Leistungsansätze oder versteckte Gewinnanteile, wird – so die Tendenz – nicht mehr prozentual als Vertragspreisniveaufaktor mit der ermittelten Differenz aus dem vorgenannten Kostenabgleich multipliziert, sondern in Bezug auf die hauptvertragliche, vorvertragliche Kostenkalkulation summenmäßig ermittelt und von den aus dem nachvertraglichen Kostenabgleich ermittelten Mehrkosten als absolute Summe in Abzug gebracht bzw. als Aufschlag dazu addiert. So bleiben die ursprünglichen Gewinn- bzw. Verlustanteile aus der hauptvertraglichen und vorvertraglichen Kalkulation in Summe (nicht als prozentualer Faktor!) erhalten und der Unternehmer stellt sich insoweit nicht besser oder schlechter als vorher. Das alte Sprichwort „Guter Preis bleibt guter Preis und schlechter Preis bleibt schlechter Preis“ findet nur mehr begrenzt Anwendung.
Für die Baustellengemeinkosten (BGK) bedeutet dies den Nachweis eines tatsächlich entstandenen Mehraufwandes. Die bloße Bezuschlagung mit einem Prozentsatz X, etwa 9 % auf die nachtragsgegenständliche Umsatzsumme, wird in Zukunft nicht als Nachweis für Mehrkosten aufgrund Wegfalls der Geschäftsgrundlage ausreichen. Die sonstigen, nicht nachweispflichtigen Zuschläge, etwa Allgemeine Geschäftskosten (AGK) und Wagnis und Gewinn (WuG) sollen erhalten bleiben und kommen auf die voran ermittelten Mehrkosten hinzu, OLG Celle, Urt. v. 25.05.2011 – 14 U 62/08 – (nicht rechtskräftig), IBR 2011, 393.
III. Fazit
Beim Anspruchsgrund wird über die neue Rechtsprechung eine „letzte“ Tür zu Gunsten des Unternehmens ermöglicht, wobei die Voraussetzungen im Vergleich zur früheren Rechtsprechung wegen des Wegfalls der 20 Prozent-Grenze zwar erledigt, aber dennoch eng gefasst sind.
In Bezug auf die Nachtragshöhe ist die Tendenz von der vorvertraglichen Kalkulation zu einem schon fast dem Schadensrecht gleichkommenden nachvertraglichen konkreten Kostenabgleich deutlich zu erkennen, wenngleich Einzelheiten, wie etwa die Erfassung des hauptvertraglichen (vorkalkulatorischen) Vertragspreisniveaus für die Nachtragspreisbildung noch nicht endgültig richterlich abgeschlossen sind. Es deutet sich aber das Prinzip der gläsernen Taschen (tatsächlich entstandener und nicht kalkulierter Mehraufwand!) unter Berücksichtigung absoluter Gewinn- oder Verlustbeträge aus der vorvertraglichen, hauptvertraglichen Kalkulation an.
RA Ernst Wilhelm, Fachanwalt für
Bau- und Architektenrecht,
Wirtschaftsmediator und Partner bei HFK Rechtsanwälte, Berlin,
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Die neue Rechtsprechung öffnet eine „letzte“ Tür beim Anspruchsgrund