EuGH-Urteil stärkt Klagerechte

Der Europäische Gerichtshof stärkt Klagerechte gegen umweltrelevante Vorhaben.

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15.11.2015 – Rs. C-137/14 – werden voraussichtlich Klagen gegen den Bau von Industrieanlagen, Kraftwerken, Straßen, Shoppingcentern oder anderen Großprojekten zunehmen. Vor allem vermitteln Genehmigungen und andere behördliche Zulassungen trotz unproblematischer Verwaltungsverfahren deutlich weniger Rechtssicherheit als bisher. Denn nach dem EuGH-Urteil sind Klagen von Umweltverbänden oder Dritten nun auch dann möglich, wenn sie ihre Einwendungen im Zulassungsverfahren nicht, nicht rechtzeitig oder nicht substantiiert genug vorgebracht haben. Folge dürften Bauverzögerungen und höhere Kosten für Großvorhaben sein.

1. Bedeutung der Präklusionsvorschriften

Bisher hatte der Gesetzgeber durch so genannte Präklusionsvorschriften einen Ausgleich zwischen einer effektiven Durchsetzung umweltrechtlicher Anforderungen und den Rechtsschutzinteressen Dritter einerseits sowie dem Interesse des Vorhabenträgers nach Rechtssicherheit andererseits geschaffen.

So waren bisher Klagen von Betroffenen und Umweltverbänden abzuweisen, soweit damit Mängel gerügt wurden, die aus den im Zulassungsverfahren offengelegten Antragsunterlagen ersichtlich waren und die die Kläger nicht innerhalb der Einwendungsfrist gerügt hatten. Präklusionsvorschriften wie beispielsweise § 2 Abs. 3 Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) oder § 73 Abs. 4 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) sollten Betroffene und Umweltverbände dazu anhalten, auf Mängel frühzeitig hinzuweisen. Damit sollte das Verfahren effektiv gestaltet und Betroffenen die Möglichkeit eröffnet werden, ihre Belange noch vor Genehmigungserteilung geltend zu machen und auf ihre Berücksichtigung hinzuwirken. Umgekehrt brauchte der Vorhabenträger nicht mehr mit Klagen gegen die Genehmigung wegen nicht bereits im Genehmigungsverfahren eingewandter, aber aus den Antragsunterlagen ersichtlicher Mängel zu rechnen.

Denn die im Verwaltungsverfahren nicht rechtzeitig oder – im Fall von Umweltverbänden – auch nicht substantiiert genug vorgetragenen Einwendungen waren als Klagegründe im späteren Klageverfahren ausgeschlossen (sog. materielle Präklusion oder Einwendungsausschluss). 

2. EuGH-Urteil vom 15.10.2015  

Der EuGH hat nun erneut die Europarechtswidrigkeit einzelner Vorschriften des deutschen Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes wegen Verstoßes gegen Art. 11 Abs. 1 der UVP-Richtlinie (Richtlinie 2011/92/EU) und Art. 25 Abs. 1 der IED-Richtlinie (Richtlinie 2010/75/EU; insoweit Nachfolgerin der IVU-Richtlinie) festgestellt. Danach müssen die Mitgliedstaaten den „Mitgliedern der betroffenen Öffentlichkeit“ einen weiten Zugang zu gerichtlichen Überprüfungsverfahren mit dem Ziel einer umfassenden materiellen und verfahrensrechtlichen Kontrolle von umweltrechtlichen Entscheidungen eröffnen.

Für Sprengstoff sorgt insbesondere der zweite der insgesamt fünf vom EuGH festgestellten Verstöße (die übrigen Verstöße hatte der EuGH teilweise schon in früheren Verfahren festgestellt bzw. den deutschen Gesetzgeber schon zur Korrektur veranlasst): die Unionsrechtswidrigkeit der Beschränkung von Klagebefugnis und gerichtlicher Kontrolle durch die Präklusionsvorschriften des § 2 Abs. 3 UmwRG (für Umweltverbandsklagen) sowie des § 73 Abs. 4 VwVfG (für Klagen gegen Planfeststellungsbeschlüsse). Der EuGH bestätigte zwar, dass der nationale Gesetzgeber zur Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens berechtigt ist. Die hier maßgeblichen Richtlinienbestimmungen verlangten aber jedenfalls für umweltrelevante Vorhaben eine umfassende materielle wie verfahrensrechtliche Kontrolle. Diese würde durch die deutschen Präklusionsvorschriften unzulässig eingeschränkt.

3. Folgen der Entscheidung

Auch wenn der EuGH nur wenige der im Umweltrecht verbreiteten Präklusionsvorschriften ausdrücklich erwähnt hat, dürfte das EuGH-Urteil im Ergebnis das Ende der Präklusion im Umweltrecht, also z.B. auch für immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftige Vorhaben wie Kraftwerke und viele Industrieanlagen, aber auch für viele Bauprojekte, bedeuten. Auch die Präklusion bei Bebauungsplanverfahren – jedenfalls bei entsprechender Umweltrelevanz – dürfte danach unionsrechtswidrig sein.

Zukünftig könnte ein Umweltverband oder ein sonstiger Dritter Mängel, die sich aus den Antrags- oder Planungsunterlagen ergeben, auch erst nach Genehmigungserteilung oder Erlass des Bebauungsplans im gerichtlichen Verfahren vorbringen, obwohl er sich im Verwaltungsverfahren nicht oder nicht substantiiert beteiligt hatte. Da eine Fehlerheilung im Nachhinein nur noch eingeschränkt möglich ist, dürfte die Abschaffung des Einwendungsausschlusses für umweltrelevante Vorhaben die ohnehin im Vergleich zu anderen Verfahren hohe Erfolgsquote von Umweltverbänden, aber auch die der sonstigen Drittklagen zusätzlich erhöhen.

Ob die EuGH-Entscheidung eine Änderung der aktuell laufenden Genehmigungs-, Planfeststellungs- oder sonstigen Planungsverfahren, insbesondere die Nachholung einer bereits erfolgten Öffentlichkeitsbeteiligung erfordert, weil in den Bekanntmachungen auf den Ausschluss der Einwendungen nach Ablauf der Einwendungsfrist hingewiesen wurde, also streng genommen fehlerbehaftet ist, wird derzeit diskutiert. Dagegen spricht jedoch, dass die Richtlinienbestimmungen wie auch die zugrundeliegende Aarhus-Konvention Verfahrensfristen gerade nicht ausschließen und den Mitgliedstaaten bei der Gestaltung der Verwaltungsverfahren Gestaltungsfreiheit lassen. Der EuGH hat daher auch „nur“ eine Beschränkung der gerichtlichen Überprüfung von Vorhabenzulassungen bemängelt.

In jedem Fall dürfte der fehlende Rückgriff auf den Einwendungsausschluss für Vorhabenträger und Behörden wegen der Erweiterung der Klagemöglichkeiten Dritter zu größerer Rechtsunsicherheit, voraussichtlich auch zu Bauverzögerungen und höheren Kosten führen.

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