Baustellen mit ‚Touch‘
Baustellenkoordination mit Multitouch-TischDer Landesbetrieb Straßen Brücken und Gewässer der Hansestadt Hamburg (LSBG) koordiniert Straßenbaumaßnahmen effizient per Spezial-Software ‚Roads‘ und angepasstem Touchscreen-Feld.
Der Landesbetrieb Straßen Brücken und Gewässer der Hansestadt Hamburg (LSBG) ist als Koordinierungsstelle für Straßenbaumaßnahmen an Hauptverkehrsstraßen und Bundesautobahnen in der Stadt dafür verantwortlich, die Maßnahmen so abzustimmen und zu planen, dass der Verkehrsfluss so wenig wie möglich beeinträchtigt wird, wichtige Verkehrsknoten wie der Hafen und der Flughafen stets erreichbar bleiben, und der Transport per Lkw möglichst störungsfrei erfolgen kann. Gleichzeitig soll der LSBG die Komplexität der Koordinierung von Baumaßnahmen für Bürger verständlich und nachvollziehbar darstellen und erklären.
Koordination bisher
Vor der Neukonzeption der Baumaßnahmenkoordinierung fand diese in Hamburg lediglich mit kurzem Vorlauf im Rahmen der verkehrlichen Anordnung statt. Damals wurden im LSBG eine webbasierte Kartenanwendung sowie Excel-Tabellen mit Gantt-Diagrammen verwendet.
Die Beteiligten haben früh erkannt, dass dieser Koordinierungsansatz nicht geeignet ist, um das Potenzial einer langfristig vorausschauenden und verzahnten Planung zu heben, das aus Sicht der Fachleute offensichtlich vorhanden ist. Um bei der Koordinierung spürbare Fortschritte machen zu können, muss ein integrierter Ansatz mit einer rollierenden Langfristplanung unter Verwendung von Alternativszenarien verfolgt werden. Nur so kann man eine Optimierung in Hinblick auf Verkehrsfluss, Kosten und andere Faktoren wie z.B. Umweltbelange erreichen.
Zeithorizonte in der Koordination
Die Baustellenkoordination lässt sich in folgende drei Zeithorizonte einteilen:
5 bis 20 Jahre in die Zukunft: Langfristige Koordination mit dem Ziel, eine Grobabstimmung vorzunehmen.
2 bis 5 Jahre in die Zukunft: Mittelfristige Koordination mit dem Ziel, einzelne Bauvorhaben unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen aufeinander abzustimmen bzw. eine rollierende Mehrjahresplanung aufzustellen.
0 bis 2 Jahre in die Zukunft: Kurzfristige Koordination der Baustellen, d.h. Erstellen des Realisierungsprogrammes, unter Berücksichtigung der konkreten Rahmenbedingungen.
Die meisten Kommunen in Deutschland koordinieren ihre Baumaßnahmen fast ausschließlich im kurzfristigen Horizont. Zu diesem späten Zeitpunkt können sie kaum noch aktiv gestalten, sondern nur noch reagieren und versuchen, die gravierendsten Konflikte zu entschärfen.
Demgegenüber verspricht gerade die mittelfristige Koordinierung von Baumaßnahmen, also ca. zwei bis fünf Jahre vor ihrer Realisierung, die deutlichsten Verbesserungen. Insbesondere noch relativ unscharfe Bedarfe in der Zukunft können frühzeitig berücksichtigt und ihr Zusammenspiel betrachtet und bewertet werden. Konflikte werden so rechtzeitig erkannt, Baumaßnahmen können sinnvoll zusammengefasst oder gleichzeitig durchgeführt werden. Den Beteiligten gelingt es so, Synergien zu finden und die Zahl der Aufbrüche zu reduzieren. Dies funktioniert dann auch über die sektoralen Grenzen hinweg.[1]
Organisationsübergreifende Koordinierung
Insbesondere die organisationsübergreifende Koordinierung zwischen dem LSBG und Hamburger Leitungsträgern verspricht ein erhebliches Verbesserungspotenzial. Vielfach führt die Instandhaltung der vielen Ver- und Entsorgungsleitungen im Straßenkörper zu Behinderungen. Ca. 25.000 Arbeitsstellen pro Jahr, davon über 3.700 in den wichtigen Hauptverkehrsstraßen, erfordern eine sorgfältige Koordinierung. Dazu sammelt die KOST im LSBG die von Straßenbaudienststellen, Leitungsunternehmen und privaten Bauherren eingehenden Informationen und wertet diese aus. Das Ziel ist es, zeitgleiche Baustellen z. B. auf wichtigen parallelen Straßen zu verhindern, so dass dem Verkehr Alternativrouten zur Verfügung stehen.
Jede Baumaßnahme hat einen eigenen Zeithorizont und braucht eigene Verkehrsführungen oder die Einrichtung von Umleitungen. Dabei konkurrieren die Baumaßnahmen um Ressourcen wie Flächen, Zeiträume und Umleitungsstrecken. Hinzu kommt der Trend zur Ausdifferenzierung kommunaler Infrastrukturen. Ein Ergebnis sind u.a. rechtlich selbständige Tochtergesellschaften mit eigenen strategischen Zielen. Dieser Entwicklung hin zur sektoralen Betrachtung steht die Tatsache gegenüber, dass derselbe öffentliche Wegegrund verschiedene Infrastruktursysteme beherbergt. Häufig beeinflussen Eingriffe an einzelnen Gewerken auch andere Gewerke im dreidimensionalen Gesamtsystem „öffentlicher Wegegrund“. Darin zeigt sich die Notwendigkeit der sektorübergreifenden Koordination der technischen Infrastruktur.
Neues Denken: Agile Koordination
Die Stadt Hamburg hat sich daher entschlossen, bei der Baumaßnahmenkoordinierung einen organisations- und sektorübergreifenden, kooperativen Ansatz zu verfolgen. Die verschiedenen Infrastrukturen im dreidimensionalen Raum der Straße mit ihren Bedarfen müssen hierzu gemeinsam betrachtet werden, die bislang vorgenommene Differenzierung nach Unternehmen und Stadt ist nicht mehr zielführend und nicht zeitgemäß. Bedarfe der verschiedenen Infrastrukturen müssen frühzeitig ins Verhältnis zueinander gesetzt werden.
Eine Baustellenkoordinatorin stellt beispielsweise eine ungünstige Konstellation im zeitlichen und räumlichen Zusammenspiel mehrerer Maßnahmen fest. Sie hält dies in Vorbereitung auf eine Teambesprechung fest, indem sie jeweils die betreffende Menge von Baumaßnahmen für die Besprechung zusammenstellt. In der Teambesprechung stellen die Teilnehmer mehrere derartige Zusammenstellungen vor und besprechen sie gemeinsam.
Auf diesem Weg werden in der Gruppe tatsächliche Konflikte erörtert, z.B. dass eine Maßnahme auf der Umleitung einer anderen Maßnahme liegt. Die Teilnehmer entwickeln gemeinsam und kooperativ Lösungsszenarien, möglicherweise auch mehrere alternative Szenarien zu jeweils einem Konflikt.
Kann in der Teambesprechung keine Einigung auf eine Lösung erzielt werden, werden die möglichen Lösungsvarianten festgehalten und zu einem späteren Zeitpunkt einer Entscheiderrunde vorgestellt. Diese bestimmt dann die umzusetzende Lösung.
Um auf diese Weise arbeiten zu können, war ein tiefgreifendes Umdenken in der Baustellenplanung und -durchführung notwendig. Statt in einzelnen, getrennten und voneinander isolierten Aufgabenpaketen vorzugehen, wird nun eine Vorgehensweise verfolgt, die wir agile Koordinierung nennen, und die folgenden Grundsätzen folgt:
Im Team arbeiten:
Team heißt zunächst alle, die in der Behörde mit Baustellenplanung befasst sind; im nächsten Schritt alle, die in einer Stadt für die Planung von Baumaßnahmen im Straßenbereich zuständig sind.
So früh wie möglich koordinieren:
Änderungen müssen in großen Teams mit einem Vorlauf geplant werden, um einen guten Kompromiss zu finden. Ad hoc Lösungen sind selten gute Kompromisse, da dort Probleme nur symptomatisch behandelt werden, jedoch nicht an der Wurzel.
Pläne machen und häufig anpassen:
Welcome Change, d.h. durch Zusammenarbeit und aus der Erfahrung im laufenden Projekt lernen und die Pläne den neuen Einsichten anpassen, statt einem einmal beschlossenen Plan so lange zu folgen, bis die Probleme unüberwindlich oder sehr kostspielig werden.
Planung verständlich visualisieren:
Pläne, besonders wenn sie häufig angepasst werden, müssen in ihren Auswirkungen im gesamten Team verstanden werden. Um in großen Teams Änderungen zu erkennen, die zum großen Teil andere gemacht haben (passive, statt aktive Wahrnehmung), reicht es nicht aus, Daten in Tabellen oder als Stecknadeln auf einer Wandkarte darzustellen. Die Änderungen müssen explizit visualisiert und kommuniziert werden.
Neue Koordination braucht neue Software
Um die beschriebenen Ziele zu erreichen und die Baumaßnahmenkoordinierung auf ganz neue Füße zu stellen, hat der LSBG innerhalb von nur 15 Monaten in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Softwarehaus WPS das Baustellenmanagementsystem ‚Roads‘ entwickelt und parallel die interne Organisation im oben beschriebenen Sinne verändert. Roads (Roadwork Administration and Decision System) [4] ist ein neues innovatives IT-System, das Projektleiter zur Koordinierung von Baumaßnahmen einsetzen. 2017 hat die BSVI (Bundesvereinigung der Straßenbau- und Verkehrsingenieure) Roads mit dem Deutschen Ingenieurpreis Straße und Verkehr in der Kategorie Innovation ausgezeichnet.
Die Anwendung
Mit Roads steht seit Kurzem eine Lösung zur Verfügung, die es dem LSBG im Zusammenspiel mit den Verantwortlichen anderer Bedarfs- und Realisierungsträger ermöglicht, übergreifend und vorausschauend Baumaßnahmen zu koordinieren. Baumaßnahmen der verschiedenen Organisationen, die die gleichen Abschnitte im Straßensystem betreffen, können mit Roads schnell identifiziert und mögliche Szenarien der Zusammenlegung in Roads durchgespielt werden. Zusammen mit der erforderlichen Umstellung der Prozesse können so organisationsübergreifende Bauprogramme mit mittelfristigem Vorlauf erstellt und abgeglichen werden.
Die langfristige Koordinierung von Baumaßnahmen, die zwei bis fünf Jahre in der Zukunft liegen, führt dazu, dass schließlich ein bereits abgestimmtes und verzahntes Baumaßnahmenprogramm in den kurzfristigen Koordinierungshorizont hineinläuft, der dadurch nicht mehr den Charakter eines Reparaturbetriebs konfliktärer Planungen besitzt, sondern Gestaltungsspielräume zurückgewinnt.
Schätzungen versprechen durch die so verbesserte Koordinierung jährliche Ersparnisse von bis zu zehn Prozent der investiven Kosten über alle Baumaßnahmen in der Straßenbestandsfläche. Dies ist insbesondere auch für die Leitungsträger von erheblichem Interesse, die aufgrund ihrer Folgepflicht bei Straßenveränderungen hohe Abschreibungsraten in ihrer In-frastruktur verkraften müssen.
Basierend auf dem Verständnis für die verkehrlichen Belange und flankiert durch betriebs- und volkswirtschaftliche Potentiale können die verschiedenen Beteiligten eine Gesamtstrategie bzw. -planung entwickeln.
Intuitiv verständliche und interaktive Baumaßnahmenkoordination
Roads fasst die an verschiedenen Stellen in Hamburg vorhandenen und für die Baustellenplanung relevanten Informationen übersichtlich zusammen und visualisiert sie georeferenziert auf der digitalen Karte eines Multi-Touchtisches oder auf interaktiven Displays. Farbige „Fähnchen“ an den Baumaßnahmen signalisieren deren zeitlichen Bezug, so dass die Verantwortlichen auf einen Blick erkennen können, welche benachbarten Baumaßnahmen zur gleichen oder zu verschiedener Zeit stattfinden, um so mögliche Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Baumaßnahmen zu erkennen. Statt die Benutzer mühsam in Excellisten wühlen zu lassen, macht sich Roads die überlegene Musterkennungsfähigkeit des menschlichen Auges zunutze, um ihnen einen instinktiveren und direkteren Zugang zur Koordination zu ermöglichen.
Dazu gehört auch, indirekte Abhängigkeiten zwischen Baumaßnahmen, wie Umleitungen oder das Freihalten von Routen zu wichtigen Verkehrsknotenpunkten, im Blick zu behalten. Solche indirekten Abhängigkeiten sind für einen Menschen ohne geeignete Softwareunterstützung oft schwer zu erkennen; ihre Auswirkungen auf Straßenverkehr können hingegen erheblich sein.
Umleitungen werden in Roads direkt bei den geplanten Baumaßnahmen erfasst, andere indirekte Abhängigkeiten können als Regeln hinterlegt werden. Werden bei der Koordinierung Baumaßnahmen auf Umleitungsstrecken gelegt oder Regeln verletzt, macht Roads die Anwender darauf aufmerksam.
Zu der intelligenten Darstellung der Baumaßnahmen kommt ein intuitives Bedienkonzept (wie wir es von Touchpads und Smartphones kennen), um in der Gruppe am Multi-Touchtisch zusammenzuarbeiten. Denn dort können Konflikte oder Synergien zwischen Baumaßnahmen einfach erkannt und durch Multitouch-Gesten Lösungsszenarien erarbeitet werden. Die intuitive Bedienung ermöglicht es den Anwendern, sich auf ihre Koordinierungsaufgabe zu fokussieren, statt über die Software nachdenken zu müssen.
Der Touchtisch ermöglicht gleichberechtigte Teamarbeit „in der Runde, auf Augenhöhe und Auge in Auge“. Die Technik schiebt sich nicht in den Vordergrund und stört darum nicht die Gruppendynamik; die natürliche Diskussionssituation um den Tisch befördert vielmehr den Dialog zwischen allen Beteiligten. Somit ist der Tisch kein Selbstzweck, sondern er ermöglicht den Verantwortlichen einen frühen Austausch und am Ende ein hohes Maß an Verbindlichkeit.
Organisationsübergreifende Koordinationsrunden
In Hamburg finden mittlerweile regelmäßige, organisationsübergreifende Koordinationsrunden am Roads-Tisch statt. Besonders bei der organisationsübergreifenden Koordination müssen alternative Lösungsvorschläge für Konflikte und Synergien über eine Sitzung hinaus Bestand haben. Dazu werden sie in Roads als Szenarien verwaltet (s. Abbildung 2). Innerhalb eines Szenarios können Baumaßnahmen per Drag&Drop zeitlich verschoben werden, ohne dass ihr ursprünglich geplanter Zeitraum gelöscht wird. So können die Beteiligten Was-wäre-wenn-Überlegungen durchspielen und verschiedene Lösungsszenarien zu einem Konflikt oder zum Heben von Synergien vorschlagen.
Diese Szenarien können aus der gemeinsamen Sitzung in die eigene Abteilung oder Organisation mitgenommen und dort abschließend abgestimmt werden. Das abgestimmte Szenario kann dann in den Planungsstand übernommen und die alternativen Szenarien verworfen werden.
Ausblick: Smart City mit ‚Roads‘
Die Vision einer rollierenden und agilen Planung geht über die bisher beschriebenen Konzepte hinaus. Die bereits diskutierten drei Zeithorizonte der Baumaßnahmenkoordinierung sollen in Roads zu einem Kontinuum verschmelzen. In den nächsten Ausbaustufen der Organisationsentwicklung und der Erweiterung des Roads-Systems sollen die Planung, die konkreten Baumaßnahmen und archivierte Verkehrsdaten in einen gemeinsamen Rückkopplungszyklus gebracht werden.
Das aktuell laufende Weiterentwicklungsvorhaben „Roads Prognose“ hat das Ziel, bei der konkreten Planung einer Baumaßnahme die möglichen Auswirkungen von Planungsalternativen auf einem eingegrenzten Gebiet und im Zeitverlauf zu simulieren, um Auswirkungen von Änderungen abschätzen zu können. Dabei sollen Randbedingungen wie Umleitungen und Schwerlastrouten berücksichtigt werden.
Fachanwender, d.h. Baustellenplaner ohne Simulationskenntnisse können mit Hilfe von Roads für geplante Baumaßnahmen die dazugehörigen verkehrlichen Einschränkungen an einen Simulator übertragen. Für die Simulation kommt ein Verkehrsmodell zum Einsatz, das mit Archivdaten kalibriert wird. Auf dieser Basis werden Verdrängungsverkehre und Stauprognosen in Echtzeit errechnet und das Ergebnis in einfacher und verständlicher Weise in Roads visualisiert. Zukünftige Störungen im Straßenverkehr lassen sich so bereits in der Planungsphase erkennen.
In einem zweiten, laufenden Weiterentwicklungsvorhaben („Roads LSA“) sollen die Planung, der Live-Betrieb und die historische Analyse von Programmen für Lichtsignalanlagen (LSA) substanziell verbessert werden. In einem zyklischen Rückkopplungsprozess zwischen den Beteiligten (Verkehrspolizei, Planungsbehörde, LSA-Unternehmen) sollen die eigentlichen Arbeitsprozesse und die LSA-Module laufend optimiert werden. Die für den Einsatz der LSA-Module benötigten Daten sowie die Ergebnisse werden, soweit möglich von dem „Urban Hub Hamburg“ bezogen und diesem wiederum zur Verfügung gestellt.
Aktuell laufen die Abstimmungen zur Weiterentwicklung der Software, um benachbarten Bundesländern zu ermöglichen, ebenfalls an dieser Koordinierung über Roads teilzunehmen. Parallel haben mehrere deutsche Städte Interesse an der Einführung von Roads gezeigt und befinden sich in Gesprächen mit LSBG und WPS.
Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer Hamburg (LSBG):
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